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Grenzerfahrung - auf dem Rad entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze

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Grenzerfahrung - mit Carlo Eggeling

 Ein Deutschland, das ist für viele selbstverständlich, dass eine Grenze das Land einst teilte – jüngere Generationen haben gar nicht mehr erlebt, wie Zäune und Wachtürme die Landschaft zerschnitten, wie Grenzsoldaten auf Menschen schossen, die von Ost nach West fliehen wollten. Im November 1989 trugen die Proteste einer Bürgerbewegung in Ostdeutschland die Deutsche Demokratische Republik zu Grabe. Das ist 30 Jahre her, Zeit für eine Bilanz. Die will die LZ-Redaktion auf etwas andere Art ziehen.

Ich werde die ehemalige Grenze, die sich etwa von Hof in Bayern bis zum Priwall bei Travemünde entlangzieht, mit dem Rad abfahren und von unterwegs berichten. Ich habe das schon einmal gemacht vor zehn Jahren unter dem Titel „Grenzerfahrung“, so heißt das Projekt auch dieses Mal.

Minen am Metallzaun

Ich bin gespannt, was sich in der Zeit getan hat. Was sieht man noch vom Todesstreifen, der so hieß, weil dort zeitweilig Minen lagen, Selbstschussautomaten befestigt waren, die auslösten, wenn jemand an den Metallzaun kam? Doch nicht nur um die Landschaft, in der noch längst geräumte Plattenbauten der Grenzer und ab und an Gebäude des Bundesgrenzschutzes wie bei Lauenburg stehen, sind Zeugen der DDR- und BRD-Geschichte, sondern vor allem die Menschen, die hüben und drüben leben. Ist die Mauer im Kopf so ganz verschwunden? Wie kommen Gemeinden in Westdeutschland über die Runden, denen die Zonenrandförderung gestrichen wurde? Wie lebt es sich etwa in Thüringen und Mecklenburg, wohin Betriebe umsiedelten, weil plötzlich dort Förderquellen sprudelten?

Knapp 1400 Kilometer lang ist die Strecke, das geht schon in die Beine. Das Rad ist allerdings nur Mittel zum Zweck: Einfach anhalten, mit Leuten ins Gespräch kommen und ihre Geschichten zur Geschichte anhören. So kann es auch mit dem Bus oder dem Zug ein Stück weitergehen, je nachdem, wie es läuft. Das hat beim vergangenen Mal gut funktioniert.Gespannt bin ich zum Beispiel auf Mödlareuth, das einst Little Berlin hieß, weil die Grenze den 40-Seelen-Ort auf gleiche Art und Weise trennte wie West- und Ost-Berlin. Die Teilung ist noch immer nicht ganz Vergangenheit, denn ein Teil liegt in Thüringen, der andere in Bayern – es gibt zwei Postleitzahlen.

In Philippstal lief die Grenze mitten durch eine ehemalige Druckerei, ein Teil steht in Thüringen, der andere in Hessen. Dort an der Werra ist die Kaliproduktion mit der Folge des versalzenen Grundwassers ein Thema.Der Brocken ist nun ein gesamtdeutsches Ausflugsziel. Zu DDR-Zeiten haben die Geheimdienste mit ihren Funkmasten vom Harz aus weit in den Westen gelauscht. In Friedland kommen statt DDR-Bürgern nun Flüchtlinge aus aller Welt an.

Mal sehen, wie die Herausforderungen heute aussehen.In Schnackenburg an der Elbe machten über die Jahre alle Läden zu, weil Zöllner und Bundesgrenzschutz nicht mehr gebraucht wurden. Die Beamten mussten anderswo arbeiten. Ich glaube, geblieben ist noch eine Kneipe. Ich hoffe, ich finde ein Bett, wenn ich da ankomme. Solche Strukturprobleme gibt es von Bayern über Thüringen bis Mecklenburg und Schleswig-Holstein.

Eine Erkenntnis wird vermutlich sein: Wir sind mitten in Deutschland, aber trotzdem ganz weit weg von Arbeit, Kino und Co. Eben dem, was für Städter selbstverständlich ist. Damals fand ich übrigens die Dönerbude sehr verbindend, die gab es selbst in abgelegenen Orten – wenn es überhaupt irgendetwas gab. Ich lasse mich überraschen. Und frage die Menschen unterwegs einfach. Neugierig und offen sein, wenig Erwartungen – wie man das so macht als Reporter.

Was machen Leute aus ihrem Leben?

Ich weiß, dass ich mich manchmal wieder motivieren muss, denn das Auf und Ab der Landschaft geht echt in die Beine. Ich war damals ab und an davor, mein Fahrrad in die Ecke zu schmeißen. Kalt ist nicht schlimm, aber Regen nervt kolossal. Aber Wetter und brennende Muskeln werden bestimmt nicht im Mittelpunkt stehen, sondern das, was die Leute aus ihrem Leben machen.Ich freue mich, wenn Sie mich begleiten und meine Eindrücke lesen.

Wir möchten Berichte auch als kurze Videos und Fotostrecken auf unseren Online-Seiten präsentieren. Dazu eine Einschränkung: Manches hängt von den Internetverbindungen ab, vor zehn Jahren waren die mancherorts ziemlich bescheiden. Ob Deutschland da weiter ist? Wir werden sehen.
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Hof. Die Wiederbelebung ist an rosa Luftballons zu erkennen, dazu wummert Disco-Musik. Das Bekleidungshaus Finck an der Hofer Ludwigstraße eröffnet gerade wieder. Es hat lange leer gestanden.

„Ein schwarzes Loch“, sagt Martin Ströbel. Der Wirt des Hotels Maxplatz weiß, wie sehr das die lokale Wirtschaft schmerzte. Denn das Kaufhaus war ein Magnet für Stadt und Landkreis Hof, aber auch für das Vogtland in Sachsen und das nahe Böhmen: „Da kamen die Leute angefahren.“ Nach zwei Jahren Pause liegt die Hoffnung nun auf dem neuen Betreiber, sein Konzept soll Kunden locken und damit der Innenstadt mehr Leben bescheren.

Verweilinseln sollen Attraktivität erhöhen

Das ist eins der Probleme der oberfränkischen Stadt. Einige Geschäfte in Hof stehen leer, und so wie es ausschaut, nicht erst seit gestern. Es reihen sich die üblichen Filialisten an der Ludwigstraße und am Oberen Tor aneinander, doch rund läuft es nicht mehr.

Die „Frankenpost“ schreibt gerade, dass „Verweilinseln“ die Stadt attraktiver machen sollen. 14 Parkplätze sollen sich dafür – eingehaust durch Kanthölzer, wie das wohl ausschauen mag? – an der Ludwigstraße unter anderem zu Außenflächen für Lokale verwandeln. Das stehe „ganz oben auf der To-do-Liste der Stadt Hof“. Im gleichen Artikel heißt es aber auch, dass man sich mit dem Wirt des „Season“ jahrelang gestritten habe, da er Gebühren für nicht angebracht hielt. Und so sagt Wirt Eduard Stähle auf die Frage, ob er Tische und Stühle aufstellt: „Steht noch zur Prüfung.“

Ein Stück weiter, am Oberen Tor, hat der Kaufhof geschlossen. Ein mächtiger Komplex, versteckt hinter Planen und Gerüsten. Irgendwie kam das Projekt ins Stocken. Nun erzählen Passanten, dass in die untere Etage kleine Läden und darüber ein Hotel einziehen sollen. Hotel? Davon ist Maxhof-Hotelier Ströbel begrenzt begeistert: „Die Stadt möchte mehr Kapazitäten. Wofür? Vor zwei Jahren wurde ein Tourismus-Konzept geschrieben. Dabei kam heraus, dass die Auslastung der Hotels bei 36 Prozent liegt. Unterirdisch.“ Bei ihm laufe es gottlob besser. Später betont der Hofer Pressesprecher Rainer Krauß, die Stadt habe mit dem Vorhaben nichts zu tun: „Eine Privatangelegenheit.“

Auch wenn Ströbel auf manche Entwicklung seiner Heimatstadt kritisch schaut, ist er von Hof begeistert. Er ist ein „Rückkehrer“, wie er selber sagt: Der Hotelfachmann hatte für eine Kette gearbeitet, verschiedene Standorte, davon sieben Jahre in Karlsruhe, als der Wunsch kam, sich selbstständig zu machen. Mit seiner Frau hat er ein Haus in der Innenstadt übernommen, Stück für Stück renovieren sie es. „Die Stadt ist lebenswert“, sagt der Gastronom.

Er zählt Pluspunkte auf: Der Theresienstein, der 2003 zum schönsten Park Deutschlands gewählt wurde, ein Zoo, der Botanische Garten, der Untreusee, die Landschaft eingekuschelt zwischen Vogtland und dem Mittelgebirge Thüringens und Frankens. Es sei auch nicht weit, um Städte im Osten und Süden zu erreichen. Und natürlich: „Nette Menschen.

"Dazu kommt die Wirtschaft, größere Betriebe, die ihm Gäste bescheren: „Geschäftsreisende. Touristen haben wir weniger, die fahren gleich zum Wandern etwa ins Fichtelgebirge.“

Dabei läuft der Wirtschaftsmotor für bayerische Verhältnisse nicht ganz rund. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,3 Prozent und damit etwa doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt.

Pressesprecher Rainer Krauß bleibt trotzdem gelassen: „Die Wirtschaft brummt, wir haben massiv Arbeitsplätze aufgebaut und leiden unter großem Fachkräftemangel.“ Die fünf Prozent erklärten sich unter anderem aus der Zuwanderung, in Hof leben viele Flüchtlinge. „Es geht aufwärts.“ In schlimmsten Zeiten „hatten wir eine Quote von 13, 15 Prozent“. Der 40-Jährige, auch einer der nach Studium und Arbeit in München zurückkehrte, verweist darauf, dass Hof seine Schuldenlast abgebaut hat. Die lag vor zehn Jahren bei knapp 130 Millionen, jetzt schreibt die Frankenpost, sei man bei knapp 93 Millionen gelandet, das bedeute, dass die strenge bayerische Finanzaufsicht nach einigen Einwänden gegen den Haushaltsentwurf, weitere Fördermittel bewilligt habe.

Vier Strophen eines Politiker-Liedes

Krauß singt das Lied, das überall in der Nähe der alten Grenze zu hören ist, die erste Strophe: „Strukturwandel.“ Die Textiindustrie habe einmal 12000 Arbeitsplätze geboten: „Davon haben wir noch zehn Prozent.“ Globalisierung, die zweite Strophe, habe Arbeit verlagert. Für den Einzelhandel darf die dritte Strophe nicht fehlen: Online-Handel frisst dem Einzelhandel die Kunden und Margen weg.

Sein Vorgänger, Peter Nürmberger, hatte vor zehn Jahren erzählt, dass man mit dem Fall der Grenze 2500 Jobs bei Bundesgrenzschutz, Zoll und anderen Behörden verloren habe. Laut Krauß, hat Hof inzwischen den Ausgleich geschafft. Auch mit Hilfe des Freistaats, der munter Standortpolitik betreibt, habe die Stadt einiges bewegt: Das Landesumweltamt errichtete hier 2006 einen Sitz mit 300 Mitarbeitern, die Hochschule machte einen Umweltstudiengang auf, Pumpen-Spezialisten haben ihren Sitz genommen: „Heute sind wir der bayerische Wasserkompetenzstandort.“
Elf Jahre ist Krauß Sprecher der Stadt. Er berichtet, dass Autozulieferer hier sitzen, aber auch die werden sich angesichts der Elektrotechnik umstellen müssen, die Logistikbranche sei stark. Die Autobahnanbindung sei bestens. Die Baugebiete im Umland seien voll.

Die abgeschmolzene Einwohnerzahl habe sich seit 2014 von gut 44 000 auf 47 500 erhöht. Das habe nicht nur mit der Zuwanderung durch Flüchtlinge zu tun. Klar, hake es hier und da, Sprachprobleme, die Schulen vor Herausforderungen stellen. Was bundesweit eine Rolle spielt, geht auch an Hof nicht vorbei: Nicht jeder mag die Fremden, trotzdem laufe es recht gut. Allerdings muss man auch sagen, dass die AfD bei der Bundestagswahl hier immerhin 13,2 Prozent holte, mehr als im Bund.

Krauß ist Optimist: „Hof hat schon immer Menschen integriert. Nach dem Krieg etwa aus Schlesien. Auch das mit dem Innenstadthandel werde Hof meistern: Um Frequenz zu schaffen, habe man Verwaltung am Rathaus gebündelt und auch die Volkshochschule in die Mitte gezogen, einen Steinwurf vom Rathaus entfernt.Umbauten wie an der Ludwigstraße stehen an, fahrerlose Busse sollen den Verkehr attraktiver machen, der Digitalisierung habe sich Hof gestellt: Im Gründerzentrum können Kaufleute das Einmaleins der Internettechnik lernen. Dazu hat man eine „Influencerin“ für mehrere Tausend Euro mit einem Werkvertrag eingestellt, deren Internet-Tipps Kunden in Geschäfte locken sollen.

Die Freiheitshalle, in der Thomas Gottschalk mit „Wetten dass“ ein paar Mal zu Gast war, habe man 2012 auch modernisiert, Messen, Kongresse, Auftritte von Künstlern über die Hofer Filmtage hinaus: „500 Veranstaltungen im Jahr.“ Eben das ziehe Menschen. Und jetzt landen wir bei dem Gespräch in der urigen Kneipe Weinkiste doch noch einmal bei der Gastronomie: Für das Tagungspublikum brauche man Hotels mit einem ähnlich guten Standard.

Kampf um die Zukunft der Stadt

Das klingt nach Zukunft. Und nach Kampf für die Stadt. Krauß sagt aber auch, es bleibe nicht einfach, die Nachwirkungen der Wende, die Firmen in den Osten zog, weil im Westen die Zonenrandförderung fiel und in Sachsen und Thürigen mehr Fördermittel flossen, mache Hof noch zu schaffen: „Wir haben Pflänzchen gesetzt, die müssen wachsen, bis sie ein Baum werden. Dafür brauchen wir Hilfe.“ Das ist Strophe vier des Lieds vom Strukturwandel, das Politiker gern anstimmen: Land und Bund sollen Geld bereitstellen.Maxplatz-Wirt Ströbel und seine Familie bereuen es nicht, nach Hof gezogen zu sein.

Sie fühlen sich wohl, verdienen ihr Geld. Was ein bisschen stört an diesem Wochenende ist das Wetter. Der Schneeregen ist blöd fürs deutsch-tschechische Freundschaftsfest. Aber was will man erwarten in einer Stadt, die spöttisch „das Sibirien Bayerns“ genannt wird? Es ist ein bisschen wie das Schicksal Hofs und anderer Städte: Es kommt immer eine neue Herausforderung.
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Steinwiesen/Kronach. Als die Bahnlinie im Juli 1900 eröffnete, sicher mit viel Tamtam, da kam ein Stück Zukunft von Kronach nach Nordhalben im Frankenwald. Zwei Dutzend Kilometer, um Güter und Menschen durch das Rodachtal zu fahren. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Überall, auch durch den Kreis Lüneburg, liefen die Schienenbänder. Dann glaubten Bahn und Politik, dass sich alles nicht mehr rechnet. Es begann ein Abschied auf Raten. Im Rodachtal endete der Personenverkehr 1976, Güter rollen seit 1994 nicht mehr. 2005 bauten Arbeiter die Strecke zurück. Bis auf den kleinen Teil zwischen Nordhalben und Steinwiesen. Den übernahmen die Eisenbahnfreunde Rodachbachtalbahn seit 2007 und lassen in der wärmeren Jahreszeit an den Wochenenden einen Schienenbus tuckern.

Nostalgie im Schienenbus

Heute bedauern manche, dass das kurze Stück übrig blieb. Eine Eisenbahn könnte der Region dienen. Strecken wiederzubeleben, diskutiert man auch anderswo, im Kreis Lüneburg, im Wendland. Wieder einmal eine Lage, die man landauf, landab findet.

An diesem Sonntag steige ich in Nordhalben bei Christian Geiger in den roten Uerdinger Schienenbus ein, der so heißt, weil die Modellreihen dort einst gebaut wurden. Geiger ist eigentlich Hausmeister, doch er hat eine Ausbildung zum Lokführer gemacht: „Die Eisenbahn hat mich schon als Kind begeistert.“ An ein paar Wochenenden im Monat setzt er sich in den Führerstand, um Tagesausflügler die elf Kilometer zwischen den Orten hin und her zu fahren. Der Verkauf der Tickets und Fördermittel tragen den Verein. Einen winzigen Bahnhof in Dürrenwaid haben die 125 Mitglieder, davon um die 15 aktiv, gekauft. Den in Nordhalben, 1899 wunderschön aus schwarzem Stein von italienischen Gastarbeitern gebaut, hätten sie gern. 1,8 Millionen Euro würde das denkmalgeschützte Ensemble samt Restaurierung kosten, zehn Prozent müsste der Verein an eigenen Mitteln aufbringen: „Das Geld haben wir nicht.“ Lösung ungewiss. Es tut weh, so einen Schatz verrotten zu sehen.

TV Loewe in Insolvenz

Es ist kalt und ungemütlich, deshalb sitzt nur ein Paar im Zug, als wir im Blumen-Pflück-Tempo gen Steinwiesen ruckeln. Die Strecke ist buckelig wie Kopfsteinpflaster. Geiger erzählt, dass der Verein Fahrzeuge und Strecke unterhält. Zwischendurch steigt ein Kollege mit einer Signalflagge aus, um die unbeschrankten Bahnübergänge zu sichern. An Feldwegen und Fußgängerübergängen hupt Geiger, wenn sie die Strecke kreuzen. In Steinwiesen gefalle das nicht jedem: Die Museumsbahn sollte nicht mehr fahren. Doch sie machen weiter und halten eine Tradition hoch, die einmal Moderne bedeutete, heute Nostalgie ist – und vielleicht wieder eine Zukunft sein könnte.

Abschied von der freundlichen Crew. Steinwiesen hat ein paar Läden, Volksbank, Sparkasse und kurioserweise am Sonntag vor der Kirche einen Klamottenmarkt, auf dem die Händler allerdings allein sind. In einem Lokal gibt es Spargel, leider schlecht geschält und zu lange gekocht. Am Stammtisch gegenüber dreschen vier Männer Schafkopf. Sehr fröhlich, sehr laut.

Aufs Rad und nach Kronach. Bei Zeyern laufen Arbeiten für eine Ortsumgehung, vor Rodach liegt ein schönes Tal. Trotzdem wär‘s schön gewesen, wenn es die alte Eisenbahnlinie noch gegeben hätte. Das Strampeln geht in die Beine.

Über Kronach habe ich in der Freien Presse gelesen: Der TV-Hersteller Loewe, der noch in Deutschland produziert, hat Insolvenz in Eigenverwaltung angemeldet, wie schon einmal vor ein paar Jahren. 500 Mitarbeiter sind betroffen. Ein Schlag für den Ort. Die Hoffnung bleibt, dass Loewe sich wieder berappelt. Eigentlich boomt die Wirtschaft, doch nicht in jeder Branche. Ich muss an die Belegschaft bei Yanfeng in Lüneburg denken, die sich große Sorgen macht.

Streckenabbau nach dem Mauerfall

Mein nächstes Ziel ist Coburg. Das wären noch einmal 35 Kilometer mit vielen Steigungen. Ich fahre zum Bahnhof.Keine direkte Verbindung, erst nach Lichtenfels, umsteigen, dann geht es weiter. Am Bahnsteig komme ich mit Frank Müller ins Gespräch.

Der Lehrer kommt aus Kronach, arbeitet jetzt aber nahe Coburg und war zu Besuch.Auch er erzählt eine Bahngeschichte. Er weiß, dass die Verbindung nach Nordhalben gekappt wurde und sagt, dass die verschwundene Grenze noch immer eine Rolle spiele: Von Deutschland West nach Deutschland Ost seien in den vergangenen Jahrzehnten Strecken abgebaut oder eben keine angelegt worden. Eine Folge der Wende: Kronach habe nach der Wende Einwohner verloren: „Es waren mal 19 000, heute sind es weniger als 17 000. Junge Leute wandern ab, die studieren in Bamberg, Bayreuth, Erlangen.“ Jetzt solle eine Hochschule für Finanzen mit 200 Studienplätzen die Stadt unterstützen.

Standortpolitik in Bayern, in Hof hat das Land auch die Hochschule gestärkt. Das scheint clever und könnte Vorbild sein.

Kronach leuchtet

Die Kleinstadt setzt auf Kunst, um auf sich aufmerksam zu machen. Gerade ist die Aktion „Kronach leuchtet“ zu Ende gegangen. „Lichtinstallationen, toll anzusehen.“ Manches leuchte auch nach dem Ende der Schau weiter.Offenbar ein Magnet: „Vergangenes Jahr kamen 180 000 Besucher.“ Wieder ein Beispiel, was sich Gemeinden einfallen lassen, um attraktiv zu bleiben.











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Heldburg. Als ich vor zehn Jahren in Heldburg war, saß ich in der schönen kleinen Kirche mit dem damaligen Küster zusammen. Er hatte erzählt, wie sie sich berappelt hatten nach der Wende, dass aber nur noch wenige in den Gottesdienst kämen. Im Kopf geblieben ist mir der Satz, es gebe ein paar rechte Jugendliche, doch die würde man schon wieder in die Gemeinschaft bekommen. Das hat wohl nicht geklappt. Parallel zur Europawahl am 26. Mai stehen in Thüringen Kommunalwahlen an. An den Straßenlaternen hängen vor allem Plakate des BZH, das steht für Bündnis Zukunft Hildburghausen. Hildburghausen ist die ein paar Kilometer entfernt liegende Kreisstadt. Einer, der sie nicht mag, erzählt mir: „Die sind noch rechts von der NPD.“

Man könnte darüber hinweggehen und die BZH als südthüringische Merkwürdigkeit abtun. Doch selbst mit nur einem kurzen Besuch scheint sich hier exemplarisch zu zeigen, was aus Politikverdrossenheit entstehen kann.

Die AfD ist da die eher harmlosere Variante. Schlüsselfigur des BZH ist Tommy Frenck. Der war, bis zur Auflösung 2009, Kreisvorsitzender der NPD, danach hat er sich quasi selbstständig gemacht und sitzt für BZH im Kreistag. Weil die anderen ihn nicht wollten, gründete er einen eigenen Fußballclub, in seiner Kneipe traten Neonazi-Bands auf.

„Der ist hier fest verankert“, sagt mir der Mann, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Frenck habe eine Anhängerschar.

Dass diese Gruppe Asylbewerber und Flüchtlinge überhaupt nicht haben will, versteht sich an dieser Stelle von selbst. Auf der BZH-Seite im Internet heißt es fast moderat, man sei gegen die „unkontrollierte Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen“.

6000 Besucher beim Festival „Rock gegen Überfremdung“

Wie weit die Unzufriedenheit, die keine Lösungen bietet, um sich greift, könne man daran sehen, dass die AfD in einigen Dörfern bei der vergangenen Landtagswahl die absolute Mehrheit erreicht habe.

Dass es am rechten Rand verbindend zugeht, stand in der Zeitungen: 2017 stellte der wegen Körperverletzung verurteilte Frenck auf dem Gelände des Bürgermeisters von Grimmelshausen, dem AfD-Politiker Bodo Dressel, ein Festival Rock gegen Überfremdung auf die Beine, 6000 Besucher kamen.

Ich stehe vor dem Rathaus von Heldburg, die Gebäude am Marktplatz rotten langsam vor sich hin. Eins steht offenbar schon länger zum Verkauf. In den Nebenstraßen wird allerdings gebaut. Das benachbarte – heute verlassene Pfarrhaus – ist hübsch restauriert.

Im Eingang des modernisierten Verwaltungssitzes hängt ein Kasten mit Wahlvorschlägen: Die CDU gibt es noch, die SPD sucht man vergebens. Bedeutungslos.

Im ersten Stock sitzt Hauptamtsleiter Volker König an einem übervollen Schreibtisch. Wenn man ihm zuhört, versteht man, warum es die Demokratie hier so schwer hat. Die Gemeinde Heldburg-Bad Colberg war nicht mehr lebensfähig, also fusionierte sie zum Jahreswechsel mit den Nachbarorten Gompertshausen und Hellingen, zuständig für 3500 Einwohner. Weil die Bürgermeister damit wegfielen, ist König bis zur Wahl als staatlich beauftragter Verwaltungsleiter eingesetzt. Kein Einzelfall, mehr als 100 Gemeinden in Thüringen gehen denselben Weg.

„Wir haben in der Verwaltung 14 Stellen“, sagt König. „Selbst der Landesrechnungshof attestiert uns, dass wir viereinhalb Stellen zu wenig haben.“ Doch eingestellt werde niemand, wie auch? Es fehlt Geld. König beschreibt, was Kommunalpolitiker überall sagen: Bund und Land verteilen Segnungen an den Bürger, doch beim Bezahlen halten sie sich zurück. Das Land Thüringen habe die generelle Berechnung von Zuschüssen vor etwa zehn Jahren überarbeitet: Im Prinzip komme nun ein Drittel weniger an Landesmitteln in den Gemeinden an: „Dem Land geht‘s gut, uns nicht.“ Eines der Beispiele: „Wir erhalten 250 000 Euro Schlüsselzuweisungen, aber wir zahlen 1,2 Millionen Kreisumlage.“ Natürlich überweist der Landkreis auch Geld für die Gemeinde. Aber es sei immer mehr als knapp.

Einmalige Fusionsprämie rettet den Kommunalhaushalt

In diesem Jahr sei der Haushalt mit einem Volumen von 9,6 Millionen Euro ausgeglichen, das liege vor allem daran, dass es eine einmalige Fusionsprämie von rund 700 000 Euro gebe. „Nächstes Jahr kommt die nicht“, bilanziert der 51-Jährige. Dann müsse man die Rücklagen angreifen, viel sei allerdings nicht auf dem Sparbuch.

Weil Heldburg klamm ist, fordert das Land, die Gemeinde solle ihre Einnahmen verbessern. Das geht bei den sogenannten freiwilligen Leistungen. Eine Idee: „Die Vereine überweisen Miete für Räume und Sportplätze.“ Das wäre machbar, glaubt König: „Wenn die guten Spieler in der Kreisklasse ein Gehalt bekommen, könnte ein Fußballverein auch etwas für den Platz bezahlen.“ Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass die Vereinsmitglieder wenig erbaut sein dürften.

Doch das ist nur ein Problem. Denn gleichzeitig diskutiere die Politik in der Landeshauptstadt, das Sportstättenförderungsgesetz umzumodeln – mit der Konsequenz, dass Vereine keine Gebühren mehr zahlen sollen. „Das ist schön für die eigene Klientel“, sagt König mit einem resignierten Lächeln. „Aber wie sollen wir das machen?“ Ein anderes Beispiel ist das Essen in der Kita. Ein Gesetz besagt, dass in die Berechnung des Preises für die Eltern, auch Kosten für Kühlung, Transport, Abwasch eingerechnet werden soll. Finden die Eltern naturgemäß blöd, sie machen mobil. Nun will die Politik das alles nicht so gemeint haben – diese Ausgaben sollen keine Rolle spielen.

„In Erfurt ist man in einer anderen Welt zu Hause“, sagt König. „Aber es führt zu Frust.“ Eben weil sich die Menschen von Berlin und Erfurt alleingelassen fühlen, machten viele ihr Kreuz nicht mehr bei den etablierten Parteien. Vielleicht ist es ein Trost: Im Heldburger Gemeinderat gibt es 18 Sitze, das ultra-rechte BZH schickt nur zwei Kandidaten ins Rennen.





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Wer nach Bad Königshofen kommt, sucht Ruhe. „Gut für Menschen mit Burnout etwa aus Frankfurt“, sagt Melanie Ebner und lächelt ein wenig spöttisch. Ihre Familie betreibt ein Hotel im Ort. „An manchen Stellen hier in der Ecke haben wir nicht einmal Handyempfang, ideal für eine Auszeit.“ Hektisch wirkt hier nichts, alles eher ein wenig kurz vorm Einschlafen. 6000 Einwohner. Ein paar kleine Läden, mindestens eine Handvoll Apotheken. Bad Königshofen ist eine Kurstadt mit Thermalbad. Melanie Ebner war einmal weg. Australien und Neuseeland, sie ist wiedergekommen – wegen der Heimat. So wie mancher, der trotz Globalisierung an dem Ort hängt, an dem er groß wurde.

Die Ebners sind Im Grabfeld, wie die Region heißt, schon lange zu Hause. Seit mindestens 1880 haben sie Landwirtschaft betrieben, 1970 wechselten sie ins Hotelgewerbe. Bilder im Haus zeigen, wie sich der Bauernhof verwandelte. Heute bieten sie in 62 Zimmern Kost und Logis. Gut gefüllt. Sie arbeiten seit langem mit Sozialorganisationen zusammen von der Awo bis zum Paritätischen, dazu mit Reisebusunternehmen. Ich war vor zehn Jahren schon einmal hier. Auf den ersten Blick hat sich nicht viel geändert: Grau- und Weißschöpfe, die Kleidung praktisch. Das Durchschnittsalter liegt geschätzt bei mindestens 70.

Entschleunigung ist hier angesagt

Doch für die Ebners ist einiges anders geworden. Seniorchef Klaus Ebner sagt: „Als wir anfingen, waren die Menschen dankbar, sie sind mal rausgekommen, Urlaub war etwas Besonderes. Allen geht’s besser. Da hat sich was getan. Anspruchsvoller sind’s, alle schon überall hin gereist. Wenn die Leute nur drei Tage bleiben, sind sie unruhig, bleiben sie zehn, sind sie ausgeglichen.“ Ebner liefert Entschleunigung, er macht Hausmusik mit der Quetschkommode, inzwischen auch mit seiner Tochter, Lieder, die alle mitsingen. Er bietet Führungen an im Biosphärenreservat Rhön, mit dem Bus geht es zur Heldburg, ins Deutsche Burgenmuseum. Man muss das mögen. Aber wenn man es mag, hat man bei Ebners das Gefühl wie auf Mamas Arm. Behütet, umsorgt.

Sie sind günstig, 2,70 Euro kostet die halbe Maß, aber selbst da mäkelt noch macher, obwohl er zu Hause vier und fünf Euro zahlt. Es ist ein harter Job. 16 Stunden am Tag für Klaus, seine Frau Karola und Tochter Melanie Ebner. Die sieht allerdings zu, dass sie sich mal freimachen kann. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann führt eine Zimmerei. Sie wohnt ein paar Dörfer weiter in Irmelshausen, hart an der alten Grenze.

Tochter übernimmt den Hotelbetrieb

Nächstes Jahr soll sie das Haus übernehmen. „Mein Vater gibt schon Aufgaben ab, aber das letzte Wort hat er“, sagt sie. Immerhin haben die alten Ebners Glück, sie haben eine Nachfolgerin für ihr Familienunternehmen. Wie viele Hoteliers und Handwerksmeister landauf landab suchen jemanden, der das weiterführt, was über Generationen aufgebaut wurde? Personal haben sie gefunden, Halbtagskräfte. Frauen, die gern die Frühschicht übernehmen, um zu Hause zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen.

Melanie Ebner hat Zeit für einen Kaffee. Sie fühlt sich wohl im für sie gar nicht so ruhigen Königshofen. Sie und ihr Mann haben Freunde hier, unternehmen etwas, sie spielt mit fünf Freunden in der Band Misses and Misters, Keyboards und Gesang sind ihr Part. Heimat eben. Etwas, das in großen Städten als provinziell belächelt wird – aber der größte Teil des Landes besteht aus Provinz. Wie in Tellmer, Walmsburg oder Brietlingen.

Die 40-Jährige sieht, dass sich etwas wandeln muss, in ihrem Haus, das will sie anschieben. Aber auch im Ort: „Die kleinen Läden sterben, Bäcker, Schlachter, Wirtschaften. Da steht etwas leer. Amazon kommt auch hier an.“ Sie freut sich, dass es für Jüngere Konzerte gibt, Kollegen haben irische Abende mit Live-Musik veranstaltet. Ein paar, die fortgingen, kamen zurück. Es bewegt sich. Sie lacht und sagt: „Wenn die Welt untergeht, bekommen wir es erst fünf Jahre später mit.“ Doch eigentlich ist sie optimistisch. Es ist so schön hier, da muss es eine Zukunft geben.

Überbleibsel der ehemaligen Grenze

Los geht‘s. Ich komme nach ein paar Kilometern durch Irmelshausen. Am Haus von Melanie Ebner vorbei, es leuchtet so grün, wie sie es erzählt hat. Mein Ziel ist Behrungen in Thüringen. Die Grenze ist eigentlich nicht mehr zu sehen, man muss schon hinschauen. Kurz hinter Irmelshausen ist noch ein Stück des alten Kolonnenweges aus Betonplatten geblieben. In Behrungen hingegen können Besucher deutsche Geschichte anschauen. Zwischen Rappertshausen im Bayerischen und dem thüringischen Gegenstück steht ein Freilichtmuseum.

Das heißt, eigentlich stehen ein bisschen Zaun, ein Turm, verbuddelte winzige Betonbunker, in denen Grenzer einst auf Flüchtlinge lauerten. Der Kampf mit dem Klassenfeind war in so einem Loch eine Herausforderung bei Hitze oder Schnee. Ich bin allein auf dem riesigen Areal. Kein Wunder, in diesem Museum erklärt sich nichts. Vor zehn Jahren habe ich noch Barkas-Transporter der Grenztruppen gesehen. Verschwunden. Geflüchtet? Alles wirkt, als gehe es nur um Verpflichtung.

Altenheim in einer aufgepeppten Kaserne

Das Beste kommt bekanntlich zum Schluss. Als ich nach Behringen hineinradle, sehe ich ein Altenheim, augenscheinlich eine aufgepeppte ehemalige Kaserne. Der Bau ist mir damals schon aufgefallen, weil sich ein Teil des Geländes mit Stacheldraht und Wachzäunen umzingelt – ob die Alten sonst abhauen? Was für ein Erbe.

Ansonsten sieht’s hier aus wie auf der bayerischen Seite, Fachwerkhäuser kuscheln sich aneinander. Sie sind geblieben. Überlebende trotz DDR. Und wiedervereint, als hätte es 40 Jahre Teilung nicht gegeben.





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Fladungen. Wenn man aus dem Hotel Sonnentau oben auf dem Hang auf Fladungen schaut, blickt man auf ein Dorf, das sich sanft in die Hügel der Rhön schmiegt. Felder leuchten gelb und grün, dunkel erheben sich Wälder, der Kirchturm streckt sich stolz und seiner gewiss. Fladungen ist die nördlichste Stadt Bayerns. Als ich vor zehn Jahren hier war, sah‘s bescheiden aus: „Und die Jungen gehen“, hatte ich geschrieben.

Heute ist die Zukunft da.
Zumindest, wenn man Bernhard Link zuhört. Er leitet das Tourismusbüro. „Es hat sich einiges getan“, sagt er. „Klar, will die Jugend raus in die Welt, zum Studieren. Aber es kommen einige wieder, denn hier stimmt die Welt noch.“ Das Heimatsehnen zieht zurück: Die Natur ist schön, die Vereine bieten eine Menge an, und das Land ist billig: „Sie bekommen hier den Quadratmeter voll erschlossen für 35 bis 39 Euro.“ Man sieht‘s: Als ich durch die Orte wie Ostheim, da wurde die Bionade erfunden und wird in Massen gebraut, hergeradelt bin, ging es durch neue Baugebiete; in den Dörfern richten Handwerker alte Häuser wieder her. Es sieht nach Wohlstand aus.

Fladungen wächst

„Die Arbeitslosigkeit liegt bei unter drei Prozent, im Prinzip haben wir Vollbeschäftigung“, sagt der 60-Jährige. Natürlich müssten die Leute fahren, manche 100 Kilometer bis Würzburg. Doch die Stunde nähmen sie in Kauf, um in einer heilen Welt zu Hause zu sein.

Fahren muss man hier eh für alles im Drei-Länder-Eck, wo sich Bayern, Hessen und Thüringen treffen: ins Südthüringische Staatstheater nach Meiningen, zur Comedy in Neustadt, ins Kino nach Fulda. Alles kein Problem, findet Link. „Eine halbe Stunde ohne Ampel, und man ist da. Wenn ich in der Großstadt lebe, fahre ich eine halbe Stunde mit der S-Bahn.“

Es ist ein Leben im Speckgürtel, was er da beschreibt. Lüneburg im Süden Hamburgs mit seinen Dörfern erlebt den Zuzug ebenso. Leben im Umland, weil die Metropole mangels Platz immer teurer wird. So bleibt die Einwohnerzahl inklusive der Ortsteile in der Gemeinde Fladungen mit rund 2400 seit längerem relativ konstant. In Fladungen selber gab es – trotz der Sterbefälle, wie es Statistiker nennen – sogar ein Plus um 50 in den vergangenen zehn Jahren auf 1200.

60 000 Tagesgäste pro Jahr im Freilichtmuseum

Gäste kommen gern in den Ort mit seinen rund 290 offiziell gemeldeten Ferienbetten, wobei sich mehr als die Hälfte auf die großen Häuser Sonnentau und Sennhütte verteilen. „Wir hatten 39 000 Übernachtungen im vergangenen Jahr“, sagt Link. Das sind 4000 mehr als vor zehn Jahren. Ein Anziehungspunkt ist das Freilichtmuseum mit 60 000 Tagesgästen. Ähnlich wie am Kiekeberg bei Harburg sind hier alte Bauernhäuser rund um eine historische Kirche quasi überall in der Ecke eingesammelt und wieder aufgebaut worden.

Alles ist proper hier. In den Werkstätten schaffen Kollegen, Rasen wird gemäht, Mitarbeiter bieten Seminare an, eine Verwaltung hat so viel zu tun, dass niemand für mich Zeit hat, während sich an diesem wolkenverhangenen Morgen gerade mal eine Schulklasse in der Anlage verliert und staunt, dass einst in einer Stube groß wie ihr Kinderzimmer zu Hause vier Menschen lebten, samt Ofen, zwei Betten, Stuhl und Tisch.

Gemeinschaft ist ein Wort, das ein paarmal fällt. Die sei hier sehr ausgeprägt. Sie leisten sich neben einem Schwimmbad, in dem ehrenamtlich mit angepackt werde, auch eine Mehrzweckhalle, in der die Vereine tagen und feiern. Davon gibt es einige: Zwei Faschingsgruppen etwa, die fünf ausverkaufte Veranstaltungen organisieren, dazu Konzerte und Familienfeiern. Läuft. Auch für Neubürger: „Sie müssen auf die anderen zugehen, dann sind sie schnell drin in der Gemeinschaft.“

Weniger als eine Zigarettenlänge Arbeitsweg

Seit Jahrzehnten erledigt der gelernte Reiseverkehrskaufmann Link seinen Job, legt oft selbst Hand an. Muss er auch. Nebenbei verwaltet er den Campingplatz und ist Hausmeister in der Veranstaltungshalle. Er ist zufrieden und ausgeglichen – wie scheinbar der ganze Ort: Die kleine Gemeinde leiste sich mit ihm einen Luxus, hat er mir damals gesagt. Das sieht er noch heute so. Dafür ist er dankbar: „Ich muss einen Umweg nehmen, weil ich auf dem Weg zur Arbeit eine Zigarette rauche.“ So nah wohnt er am Büro.

Das klingt alles so schön. So wohlig, dass man sich fragt, ob man Fladungen jemals wieder verlassen möchte. Doch ganz so heil ist die Welt dann doch nicht. Es fährt kein Bus in die Nachbarorte in Hessen und Thüringen, es dauert Stunden, um die acht Kilometer nach Hilders zu überwinden, da man über Mellrichtstadt und Fulda fahren müsste. Schlecht für Touristen und die, die kein Auto haben. Viel schlimmer: Der Rewe am Ortseingang soll schließen. Wo einkaufen?

Aber es wird weitergehen in Fladungen, Bislang haben sie es ganz gut hinbekommen. Warum sollte es anders kommen?

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Schon auf dem Weg zum Point Alpha bei Geisa fällt die gewaltige Abraumhalde auf, die sich am Horizont abhebt. Gut 16 Kilometer entfernt im hessischen Philippsthal. Ein paar Kilometer weiter, in Heringen, füllt ein zweiter künstlicher Berg den Himmel und scheint den Ort schier zu erdrücken. Monte Kali nennen sie ihn hier. Abraumhalden der Kaliproduktion, in Heringen gut 200 Meter hoch, über dem Meeresspiegel sogar 530, täglich wachsend um 14 000 Tonnen. Die Stadt wirbt sogar mit dem Koloss, bietet Ausflugstouren an, mit Blick von der Wasserkuppe in der Rhön bis zum Thüringer Wald. Eine ungewöhnliche Tour auf einen gewaltigen Müllberg. Aber die Region lebt seit mehr als einem Jahrhundert mit dem Bergbau und dessen Folgen. Der Konzern Kali + Salz, kurz K+S, bestimmt das Dasein.

Berge wachsen immer weiter

Als ich vor zehn Jahren hier war, hatten mir ein Lokalzeitungsredakteur und eine Wirtin von Problemen mit der Versalzung erzählt. Denn Salz holen die Bergleute in rauen Mengen nach oben, als Folge der Mineralgewinnung. Und dieses Salz ist in diesen Massen nicht zu verkaufen, also wachsen die Berge immer weiter. Wenn es regnet, spült quasi Sole in die Werra und nimmt die Mischung mit in Richtung Weser. Es gab Gerichtsverfahren, die EU sieht Grenzwerte nicht eingehalten. Zeitweilig, das ist nachzulesen, musste K+S die Förderung herunterfahren, eben weil man jenseits der Toleranzen lag.

Als ich in einem Geschäft an Heringens Hauptstraße nachfrage, wie es heute ausschaut, sagt die Verkäuferin: „So schlimm ist das nun auch nicht. Mein Mann arbeitet für K+S, wie viele hier.“ Man solle das Thema nicht aufbauschen.

Während Umweltschützer beklagen, dass das Salz das Grundwasser und die Natur belaste, bleibt Heringens Bürgermeister Daniel Iliev gelassener: „Man kann immer ein Haar in der Suppe finden, Salzblasen auf der Werra gab es vor 30 Jahren. Das ist vorbei. Mir geht es in der Debatte zu negativ zu. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber es hat sich auch eine Menge getan.“ Eine halbe Milliarde Euro habe K+S in Umweltmaßnahmen gesteckt, bis 2029 sollen die Halden begrünt werden, damit der Regen kaum noch Salz in den Fluss spült. „Wir leben in einem Industrierevier“, sagt Iliev. „Bergbau stiftet Identität wie im Ruhrgebiet und hat eben Einwirkungen auf die Natur.“ Vieles sei mit dem Ende der DDR besser geworden.

Das erklärt sich so: Das Kalirevier zieht sich an der Werra in Thüringen und Hessen entlang. Die verschiedenen Kristalle, die daraus gewonnen werden, dienen der Landwirtschaft als Dünger. Für die DDR bedeutete der Bodenschatz einen Devisenbringer, im kapitalistischen Ausland war der Stoff gefragt. Hinter Kanada und der Sowjetunion belegte Deutschland Ost Platz 3 der Produzenten. Wie auch anderswo interessierte sich Ostberlin allerdings wenig für irgendwelche Grenzwerte und den Umweltschutz und leitete Abwässer einfach in die Werra – die nahm das viele Salz mit über die Weser bis zur Nordsee. Mit Folgen. Bundesdeutsche Proteste verhallten. Mit der Wende trat auch hier eine Wende ein. Ob sie reicht, daran scheiden sich die Geister. K+S erfüllte Vorgaben in der Vergangenheit nicht, die Folge waren Verfahren.

Der eher verständnisvolle Blick Bürgermeister Ilievs auf die Lage könnte sich aus der Bedeutung des Unternehmens erklären: „K+S ist hier so etwas wie VW für Wolfsburg. Direkt und indirekt hängen bei uns 20 000 Arbeitsplätze davon ab. Handwerker, Zulieferbetriebe leben auch von den Standorten.“

Der Sozialdemokrat, 35 Jahre alt, kam nach Studium in Jena und Stationen in Erfurt und Berlin zurück in seine Heimatstadt. Ihn treiben Probleme um wie andere Bürgermeister: Breitbandausbau, WLAN-Hotspots, billiges Bauland für Familien, der demographische Wandel. Drei Jahre ist er im Amt: „Die beste Entscheidung meines Lebens.“

Prognosen zufolge reichen die Kalivorkommen noch bis in die 2060er-Jahre. Vielleicht bereiten aber auch Umweltauflagen der Kali-Geschichte ein schnelleres Ende. Das Thema dürfte den Bürgermeister und die Region weiter umtreiben. So oder so.

Grenzenlos in Vacha

Zwischen Vacha in Thüringen und Philippsthal in Hessen überspannt in eleganten Bögen die „Brücke der Einheit“ die Werra. Die war zu DDR-Zeiten eingehaust wie ein Gefängnis, in den Fluss ragend, damit niemand schwimmend oder tauchend das Ufer wechseln konnte. Schaubilder zeigen eine gespenstische Kulisse. Heute ist es ein Idyll mit Blick auf den behäbigen Kirchturm in Vacha.

Georg Kiebkes, der mir auf einem Liegerad entgegenkommt, legt dort eine Pause ein. Lebenskünstler und Aussteiger sei er. „Ich bin vor zehn Wochen in Fuchsstadt bei Hammelburg gestartet“, erzählt er. Das liegt in Höhe Schweinfurt. Es habe ihn gepackt, bis Holland sei er geradelt. Schnee und Regen hat er erlebt, geschlafen habe er trotzdem meistens im Schlafsack im Zelt.

Mit dem Rad sei er schon auf Sizilien und am Nordkap gewesen. Wovon er lebt, bleibt vage, er habe geerbt, Geld angelegt, beim Verkauf von Gold seinen Schnitt gemacht, bis 1997 gearbeitet. Wichtig ist ihm: „Ich bekomme nix vom Staat.“ 57 ist er, seit 20 Jahren lebt er anders als andere: „Ich bin nicht verheiratet. Jetzt habe ich zweieinhalb Jahre zu Hause meinen Vater gepflegt.“ Der aber ist nicht mehr, „danach hat mich die Sehnsucht gepackt, ich bin wieder los.“ Ein paar Tage will er noch fahren, im Prinzip die Strecke, die ich ihm entgegengekommen bin.

Was davon stimmt, weiß ich nicht. Aber er ist ein netter Kerl, dem ich alles Glück wünsche, und es ist schon etwas Besonderes, an diesem einst so abgeschlossenen Ort einen Mann zu treffen, der grenzenlos sein Leben lebt.

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Es ist eine Frage der Anschauung: Das Glas ist halb leer oder halb voll. Wenn man Heidi Trebing und Kay Bruns zuhört, ist Eschwege zu einer Rentnerstadt geworden, erzählen sie in der Pension Frankfurter Hof. Nach der Wende seien Firmen gegangen, weil im Osten mehr Fördermittel lockten. Geblieben sei allerdings Stiebel Eltron, der Warmwasserspezialist und die Schule der Bundespolizei. Das seien sichere Jobs. Doch seit Jahren würden die Jungen gehen, weil sie anderswo studierten oder besser bezahlte Arbeitsplätze fänden. Bummelt man durch die Innenstadt, findet man einige leerstehende Läden. Manche der Fachwerkhäuser verfallen sichtlich neben ihren schmucken Geschwistern. Also ja, man könnte eine etwas trübe Bilanz ziehen.

Gegen Depressionen hilft ein Besuch bei Jutta Riedl. Sie leitet das Tourismus-Büro der Stadt. Natürlich ist sie damit automatisch für eine positive Sicht zuständig. Doch bei der 62-Jährigen ist da mehr: Begeisterung. Seit dem Mauerfall habe die Stadt sich sehr engagiert, Eschwege attraktiver zu machen. „Wir konnten uns mit dem Wegfall der Grenze erstmals bewegen, wir lagen mitten in Deutschland.“ Vorher sei man umschlossen gewesen, vorbei. Gemeinsam mit den Nachbarländern und Kreisen in Thüringen und Niedersachsen habe man gemeinsame Wanderwege und Radstrecken entwickelt. Während die Werra 40, 50 Kilometer weiter in Heringen durch die Kaliproduktion ein belasteter Fluss ist, ist sie hier ein touristischer Schatz.

Der Wandel habe die Stadt wirtschaftlich getroffen, da ist sie sich einig mit Heidi Trebing und Kay Bruns. Ja, Unternehmen seien gegangen. Doch beim Fremdenverkehr habe sich viel bewegt. Inzwischen zähle man zwischen 70 000 und 100 000 Übernachtungen pro Jahr. Es gebe einen Investor, der ein neues Hotel bauen wolle. Ein Fünf-Sterne-Campingplatz ziehe Gäste an, eine Jetski-Meisterschaft für junge Gäste sei geplant.

Mit kulturellen Festivals verdopple man die Einwohnerschaft von 20 000 Menschen. Die Tourismuschefin nennt noch mehr: Eine junge Bühne habe man, ein Brauerei- und ein Wurstfest locken Besucher.

Dazu habe die Stadt Fördermittel eingeworben. Damit sollen Hausbesitzer animiert werden, den historischen, aber angejahrten Häusern wieder ein würdiges Antlitz zu verleihen. In den vergangenen Jahren habe man den schäbigen Bahnhof vom Rand in die Stadt geholt. Der erhebt sich nun modern und frisch, kombiniert Stadtbusverkehr und den Gleisanschluss etwa in Richtung Göttingen. „Wir wollten ihn auch für Radfahrer attraktiv machen“, sagt sie. Eben weil man die Radwanderwege sozusagen fortsetzen wolle.

Nutzen für Touristen und Anwohner

Die Tourismustochter hat einen Etat von 300 000 Euro im Jahr: „100 000 davon erwirtschaften wir selber“, sagt Jutta Riedl sichtlich stolz. Doch insgesamt investiere die Stadt durch die Pflege von Anlagen und Wegen rund eine Millionen Euro in den Fremdenverkehr. Viereinhalb Stellen hat die Frau mit dem charmanten Lächeln und der zupackenden Art in ihrer Abteilung, sie könnte mehr brauchen.

Die Stadt hat einen Weg gewählt, den auch Lüneburg etwa über Gesundheitsholding und Lüwobau kennt, sie hat Gesellschaften gegründet. Dafür nutzt Eschwege seine Stadtwerke, hier sind das Freizeitbad uns das Tourismusbüro angesiedelt, dazu hat die Kommune auf diese Art zudem einen Kletterwald erworben. Alles kleine Schritte. Der Effekt: „Das kommt nicht nur den Gästen zugute, sondern auch den eigenen Bürgern.“ Ach ja, der Leerstand: „Der ist so gering wie lange nicht.“ Und werde weiter sinken.

Jutta Riedl arbeitet seit Beginn für das Tourismusbüro und meint nach ihrer Bilanz: „Wir sind nur ein Baustein in dem Konzept.“ Doch offenbar ein wichtiger.
Dann zuckt sie mit den Schultern: „Die Einheimischen sagen oft, hier sei nichts los. Das stimmt doch gar nicht.“ Das sei wie in anderen Städten, Leistung werde von der Bevölkerung oftmals nicht gesehen, vieles werde als selbstverständlich hingenommen.

Wie auch immer, Eschwege muss etwas haben. Auf jeden Fall für den Handwerker Kay Bruns, den ich am Morgen im Frankfurter Hof getroffen habe, er ist mit seinen Eltern aus der DDR in die Werra-Stadt gezogen, als er zwölf war. Er ist geblieben und ist inzwischen 35. „Ich bin Schreiner und selbstständig. Es ist reichlich zu tun. Für meine Kinder ist eine gute Region, um hier aufzuwachsen.“ Das klingt zufrieden.

Wie gesagt, es ist eine Frage der Einstellung, ob das Glas halb leer oder halb voll ist.
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Ohne Grenzen gäbe es Friedland nicht, gleichzeitig ist es grenzenlos: das Grenzdurchgangslager (GDL) mitten im Dorf gelegen. Knapp 11 000 Einwohner zählt die Gemeinde mit ihren Ortsteilen im südlichen Zipfel Niedersachsens, einen Katzensprung von Hessen und Thüringen entfernt. Das GDL macht Friedland seit Herbst 1945 international. Die Briten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Außenstelle der Universität Göttingen umgewandelt, um den nicht abreißenden Strom der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten zu kanalisieren und aufzunehmen. „Bis heute sind hier rund vier Millionen Menschen durchgegangen“, sagt Heinrich Hörnschemeyer. „Im nächsten Jahr feiern wir 75. Geburtstag, damit sind wir älter als das Land Niedersachsen.“ Das wurde im November 1946 gegründet.

Hörnschemeyer sitzt in einem schmucklosen Büro. Auf dem Konferenztisch stapeln sich ein paar Stöße Akten. Seit fast 28 Jahren leitet der Beamte das Lager. Er spürt alle Krisen der Welt. Auch einige, von denen abends kaum in der Tagesschau berichtet wird: „Im Moment haben wir Leute aus 15, 16 Herkunftsländern hier, darunter eine ganze Anzahl aus Kolumbien. Ab und an mal jemanden aus Nepal oder Ruanda. Warum daher? Fragen Sie mich nicht.“

Auch aus der DDR passierten Abertausende Friedland, um in die Bundesrepublik überzusiedeln. Auch wenn der Eiserne Vorhang lange passé ist und man vielleicht nicht damit rechnet: Es melden sich immer noch Spätaussiedler, die sich deutschstämmig fühlen, in Friedland: „Rund 7000 Menschen im Jahr kommen aus Russland und Kasachstan. Alle Spätaussiedler, die nach Deutschland wollen, melden sich bei uns. Sie bleiben vielleicht eine Woche.“ Denn der Papierkram wird schon vor der Abreise in Richtung Westen mit den Behörden schriftlich geklärt. Wer kommt, darf künftig irgendwo zwischen Flensburg und Fürstenfeldbruck leben. Die Deutschen aus Russland, wie sie sich selbst gern nennen, ziehen zu Verwandten.

Lernen, welche Regeln in Deutschland gelten

Friedland ist inzwischen Teil der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen. Das bedeute für die zweite Gruppe, das Friedland ihre zweite Station in Niedersachsen ist, erklärt Hörnschemeyer: Für Asylbewerber liegen zentrale Ankunftszentren in Fallingbostel und Bramsche. Bevor die Menschen nach zwei, drei Monaten auf die Kommunen verteilt werden, können sie „Wegweiserkurse“ nutzen: Wie lebt man in Deutschland zusammen, welche Regeln gelten? Welche Behörden helfen und wie? Dafür stehen auch Beratungsstellen von Caritas und Diakonie bereit. Es sei ein Grundkanon, den man vermittle: „Etwa dass man 110 oder 112 anruft, wenn es brennt, dass es Sinn ergibt, später Sprach- und Integrationskurse zu besuchen.“ Gleichzeitig dürfe man nicht zu viel erwarten: „Da stürmt viel Neues auf die Menschen ein.“

„Die Kinder erleben oft seit langem mal wieder so etwas wie Schule“, sagt der 62-Jährige. „Malen, basteln, sofern es geht ein paar Sprachkenntnisse.“ Auch wenn es kein regulärer Unterricht sei, sei es eine Vorbereitung für die Schule, in die die Mädchen und Jungen bald in einer Gemeinde gehen können.

Es kann aber auch sein, dass die Menschen nicht bleiben dürfen. Eine entscheidende Rolle spielt in den Verfahren, ob Zuwanderer aus sogenannten sicheren Herkunftsländern kommen, ist das der Fall, besteht in der Regel kein Bleiberecht. Die Wege hier sind kurz. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat in Friedland einen Sitz, es ist für die Anerkennung der Asylbewerber zuständig.

Eine dritte Gruppe sind Menschen, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen. Aus Regionen in der Welt, in denen Gewalt und Verfolgung an der Tagesordnung sind, zum Beispiel Syrien, Iran, Irak, Afghanistan, Syrer, die in der Türkei leben. Auch sie machen nur kurz in Friedland Station, bevor sie nach einem Schlüssel auf Bundesländer und Gemeinden verteilt werden. „Die Leute kommen bundesweit zentral zu uns“, sagt Hörnschemeyer. „Die kommenden Tage holen wir mit Bussen direkt vom Flugzeug 185 Syrer ab, die aus der Türkei kommen. Für die besteht eine Zusage der Bundesregierung, dass sie aufgenommen werden und zumindest zunächst bleiben dürfen.“

Jede Gruppe mache etwa ein Drittel der Menschen aus, die in Friedland begrüßt werden, sagt der Chef der Einrichtung. Von den 250 Betten, die in den Baracken stehen, seien aktuell rund 100 belegt. Friedland erlebt immer wieder Wellen: Je nachdem, wo und wie heftig Konflikte in der Welt toben: In den 90er-Jahren, als Jugoslawien blutig und grausam auseinanderbrach, waren es Menschen vom Balkan. Jeder hat noch die Bilder aus dem Jahr 2015 von Flüchtlingsmärschen durch halb Europa im Kopf, von völlig überladenen Booten mit verzweifelten Menschen im Mittelmeer. Seitdem die EU sich abschottet, ist aus dem Strom eher ein Rinnsal geworden.

Am Ort Friedland selbst gingen die Auseinandersetzungen um den rechten Kurs in der Zuwanderungspolitik weitgehend vorbei. „Die Friedländer gehen gut damit um“, sagt Hörnschemeyer. An den Menschen mit anderen Sprachen und Hautfarben nehme kaum jemand Anstoß.

Aber der konfliktarme Alltag hänge sicher auch mit der langen Geschichte des Lagers zusammen und damit, dass man ein großer Arbeitgeber sei: „Wir haben als Landesbehörde 120 Mitarbeiter, dazu kommen die des BAMF und von Caritas und Diakonie. Wir kaufen Lebensmittel in der Region, beauftragen Handwerksbetriebe.“
Ohne Eisbein mit Sauerkrautgibt es weniger Probleme. 

Und es liegt sicher auch daran, dass Hörnschemeyer und seine Kollegen zusehen, dass es innerhalb des Lagers für alle so gut wie möglich zugeht. „Es gibt bei uns kein Eisbein mit Sauerkraut“, überspitzt der Leiter. „Wir servieren kein Schweinefleisch, sondern Geflügel, damit sind alle zufrieden.“ Dazu gebe es fleischlose Angebote. Wer mag, kann auch in Teeküchen, die es in den Unterkünften gibt, ein Gericht aus seiner Heimat kochen. Man lebe vielleicht nicht mit-, aber nebeneinander, und zwar friedlich: „Am besten funktioniert das mit den Kindern. Da werfen Sie einen Ball in die Mitte, Sprache und Herkunft spielen keine Rolle mehr.“

Auch wenn es gut läuft, wer ins Lager kommt, der bleibt nur relativ kurz. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum es wenig knirscht. Hörnschemeyer umschreibt es so: „Hier entstehen keine Freundschaften fürs Leben.“ Aber es ist eine Ankunft, und wer hier als Fremder willkommengeheißen wird, geht hoffentlich mit einem freundlichen und offenen Blick weiter rein nach Deutschland.

Die alte DDR-Grenze lag nicht weit weg von hier. Die ist verschwunden. Die hier sind, haben Grenzen hinter sich gelassen. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Da hat sich seit den ersten Tagen des Lagers 1945 nichts geändert.  





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Hermann Löns liebte nicht nur die Heide und spottete gern über Lüneburg, der Heimatdichter mochte auch den höchsten Berg im Norden. „Seitdem die Bahn geht, kann jeder Asphalttrottel zum Brocken“, beschrieb der Schriftsteller 1907 den Massentourismus im Harz. Daran hat sich nichts geändert. Heute bin ich einer dieser faulen Besucher, der sich von einer Dampflok gemächlich steil nach oben ziehen lässt. Gut eineinhalb Stunden dauert es, der Zug stoppt ein paarmal, wie um wieder neue Kraft für die Steigung zu sammeln – man fühlt sich ein bisschen in Löns´ Zeit zurückversetzt, so nostalgisch qualmt die mit Kohle befeuerte Dampflok, so rustikal sind die Waggons, so rumpelig die Schienen. Rund eine Million Touristen besucht jedes Jahr den Gipfel, rund die Hälfte nutzt die Bahn, die anderen wandern oder strampeln sich auf dem Rad ab.

Ist man oben auf 1142 Meter Höhe, muss man Glück haben, denn durchschnittlich umwabert an mehr als 300 Tagen Nebel die Spitze; scheint die Sonne, kann man mehr als 200 Kilometer weit ins Land schauen – grandios. Auch grandios teuer: 45 Euro kostet es, hoch und runter zu fahren. Trotzdem, der Zug ist voll. Die meisten sind warm angezogen, denn oben haben wir nur zwei, drei Grad über null, unten sind‘s zehn mehr.

Heinrich Heine war da auf seiner „Harzreise“, Mathematiker Gauß, die forschenden Gebrüder Humbold – und Goethe, der den Harz mit seinen Walpurgisnächten im „Faust“ als Bühne nutzte. Dem Dichterfürsten fiel wie immer etwas ans Herz Gehendes ein: „Weit, hoch, herrlich der Blick/ rings ins Leben hinein/ vom Gebirg zum Gebirg/ schwebt der Geist/ ewigen Lebens ahndevoll.“

Alles sehr erhebend. Es gibt eine andere Seite: Der Brocken leidet. Der Zug schnauft an Massen von grauen, umgestürzten und umgesägten Stämmen vorbei.

„Große Flächen mit Fichten sterben ab“, sagt Naturpark-Ranger Robby Meißner, den ich im Brocken-Haus treffe, das Geschichte und Natur erklärt. Das habe verschiedene Ursachen: Klimaveränderungen, wie etwa der extrem trockene Sommer im vergangenen Jahr. Der saure Regen, den man in den 1980er Jahren entdeckte, wäscht Nährstoffe aus dem Boden, überdies frisst er Oberflächen der Blätter und Nadeln an. Höhere Ozonwerte lassen den Baum mehr an Feuchtigkeit verdunsten, als er „trinken“ kann: „Den Schlussstrich zieht der Borkenkäfer.“ Eine Ursache liegt Jahrhunderte zurück. Im Harz haben die Menschen immer viel Holz verbraucht, für die Bergwerke, zum Heizen und Bauen. Also setzten die Ahnen auf die Fichte. „Sie war der Brotbaum“, sagt Meißner: schnell wachsend mit geraden Stämmen. Jetzt gebe es einen Wandel, der Wald werde sich erneuern. „Was liegen bleibt, zerfällt, Insekten und Käfer finden Nahrung. Vögel bringen Samen mit und lassen sie fallen. Es könnte ein artenreicher Wald werden.“ Aber der Ranger wirbt um Geduld. Fast 250 Quadratkilometer Harz stehen länderübergreifend rund um den Brocken im Nationalpark Harz unter Schutz: „Es ist ja der Sinn, dass sich etwas entwickeln kann.“

Selbstverständlich spielte auch hier die Grenze eine Rolle: In dem Schutzstreifen, der damals eine ganz andere Bedeutung hatte, konnte viel Ursprüngliches so wachsen, wie es wollte. Darin liegt unter anderem die Idee der Grünen Bandes, das sich an der ehemaligen Trennungslinie entlangzieht.

Der Brocken und der gegenüberliegende Wurmberg bei Braunlage waren wichtig im Kalten Krieg. Während im Westen der amerikanische Geheimdienst NSA mit riesigen Antennen weit in den Osten lauschte, machte es die Sowjetunion gegenüber seit 1947 nicht anders. Erst 1994 zogen die letzten der bis zu 100 russischen Soldaten ab. Auch die Stasi der DDR, die die eigenen Bürger überwachte und im Westen spionierte, unterhielt einen Horchposten. Im Volksmund hieß der Bau mit dem Kuppeldach „Stasi-Moschee“.

Als die DDR von ihrem eigenen Volk aufgelöst wurde, war auch das Ende der drei Hektar großen Geheimdienst-Festung Brocken gekommen. Denn der war seit dem Mauerbau 1961 abgeriegelt. Ab Schierke durfte niemand mehr höher wandern. Eine Mauer umschloss das Areal. Am 3. Dezember 1989 hielten es die Bürger nicht mehr aus, Hunderte marschierten auf den Sehnsuchtsberg – und die Russen spendierten heißen Tee. Friede über den Wipfeln.

Mit diesem Ende fiel auch die Mauer, die alles umschloss. Heute dienen ihre Fundamente als Rundweg, auf dem Ranger wie Meißner Besucher führen. Es klingt ein bisschen nach einem Vorbild für die Natur, von dem Meißner vorhin erzählte: Die bedeutet Wandel und eine Zukunft.

Wer oben den Blick wandern lässt, darf sich ein wenig wie Goethe fühlen. Der 1142 Meter hohe Gipfel schenkt Erhabenheit und die nimmt man mit.



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Die Idee ist mutig: Ein Museum zu bauen für ein paar Stöcke. Aus Sicht der Wissenschaft sind die acht Schöninger Speere etwas Sensationelles, Zeugen einer Zeit von vor rund 300 000 Jahren, sozusagen aus der Kinderstube der Menschheit. Die angeschnitzten Knüppel erinnern ein bisschen an Kindertage, in denen man als Winnetou auf die Pirsch ging. In Schöningen, im Helmstedter Braunkohlerevier, haben ein Förderverein und lokale Politiker einen großen Schaukasten namens Paläon daraus gemacht. Die Wirtschaftskrise 2008 und Landespolitiker hatten geholfen, schließlich mit 15 Millionen Euro aus einem Konjunkturprogramm ein Museum zu bauen. 2013 eröffnet, steckt das Haus in einer Krise.

An der Kasse schiebt Claudia Schaper an diesem Mittag Dienst. Sie und ihre Kollegen bangen um die Jobs: „Dem gesamten Personal wurde zu Ende Juni gekündigt.“ 30 Mitarbeiter. Das klinge viel, doch die meisten arbeiteten auf Stundenbasis. Irgendwie solle es in anderer Form weitergehen. Möglichst billiger. Wie auch sonst?

Claudia Schaper lädt ein ins Paläon: Besucher können etwas über die Frühgeschichte der Menschheit erfahren. (Foto: ca)Die 57-Jährige erzählt eine Geschichte davon, wie sie ihre Stadt interessant machen wollen. Tourismus ist längst eine Einnahmequelle an vielen Orten an der alten Grenze. Ein harter Kampf nicht nur in den Gremien. Denn der Weg ist schlecht ausgewiesen. Ich bin erst in die falsche Richtung gefahren, weil ein Schild verdreht war. Es geht dann kilometerweit ins Nichts, bis der futuristisch zerknautschte Bau endlich auftaucht. Claudia Schaper berichtet, dass Buslinien vorbeifahren — vorbei. Eben ohne Schlenker zum Museum: „Wir haben einige Gruppen, die auf den Nahverkehr angewiesen sind.“

Claudia Schaper ist offenbar eine Frau, für die Heimat eine Aufgabe bedeutet. „Ich bin im Fremdenverkehrsverein und im Förderverein des Museums. Ich habe mich von Anfang an eingesetzt, dass wir das Paläon bekommen.“ Schöningen sei Teil einer Industrieregion gewesen. Vor Jahrhunderten förderte man wie in Lüneburg Salz. Später, Ende des 19. Jahrhunderts, kam der Kohleabbau unter Tage, schließlich begannen riesige Bagger, Braunkohle aus der Erde zu fressen. Gewaltige Löcher in Terrassen angelegt, prägen die Landschaft.

„Größte Dreckschleuder der Nation“

Doch das ist Geschichte. Die Mitarbeiterin stimmt ein Lied an, das häufig in der Westzone zu hören ist. Betriebe seien nach der Wende gen Osten gezogen. Einige führen bis Wolfsburg zur Arbeit – VW strahlt weit ins Land. Eben deshalb sei es wichtig zu zeigen, was Schöningen alles zu bieten habe: ein Schloss, ein Heimatmuseum, eine Schau zum Bergbau. Und das Paläon.

Im Schöninger Revier demonstrierten vor 40 Jahren Umweltaktivisten gegen das geplante Kraftwerk Buschhaus und die nicht ausreichenden Filter. Der Koloss galt als „größte Dreckschleuder der Nation“. Erst nach einer Sondersitzung des Bundestages durfte das Werk 1985 mit einem Kompromiss ans Netz gehen. In den Jahren danach wurden Millionen in Filteranlagen investiert.

Buschhaus sollte bis 2030 laufen. Doch um die Klimaschutzziele der Bundesregierung zu erreichen, wurde der Meiler 2016 abgeschaltet und steht nur noch bis nächstes Jahr als Sicherheitsreserve zur Verfügung. Einerseits schön, andererseits ziemlich blöd gelaufen. Denn bei den aktuellen Verhandlungen um den Kohleausstieg habe man das Helmstedter Land schlicht vergessen, erzählt Claudia Schaper. Da müsse Niedersachsen schnell handeln. Denn wenn Milliarden verteilt werden für einen sogenannten Strukturwandel, könne man auch hier Bares brauchen. Es würden doch Unsummen versenkt für Projekte wie den Berliner Flughafen, den Bahnhof Stuttgart 21 und nicht zu vergessen das Bundeswehr-Schulschiff Gorch Fock.

Da sei das Paläon hingegen eine sinnvolle Investition. Was man alles lernen könne. Schulklassen seien begeistert. Das Zentrum sei bereits aus einem Konjunkturpaket entstanden. Ein Museum ist ein Klassiker der politischen Versorgungsmedizin, es hängt immer am Tropf: „So ein Haus trägt sich nie allein.“ Doch sie hätten eine Menge getan, um die Schaustätte der Menschheitsgeschichte attraktiv zu machen: „Wir haben zwischen 45 000 und 50 000 Besucher im Jahr.“ Eine respektable Zahl, findet sie, aber eben auch ausbaufähig.

Schädel, Labore und eine Playmobil-Ausstellung

Archäololgen haben vor den Baggern in der Braunkohle gebuddelt. Sie sicherten unscheinbare Schätze, die erklären eben, wie Zivilisation begann. Knochen und Abdrucke urzeitlicher Tiere, die zur Beute der Ur-Schöninger wurden, Steinwerkzeuge, Reste von Lagerplätzen. Die Ausstellung ist angereichert mit Nachbildungen von Schädeln, die man in anderen Ecken der Welt entdeckte und die zeigen, wie weit die Geschichte des Menschwerdens zurückreicht. Labore zum Ausprobieren sollen Kinder für wissenschaftliches Arbeiten begeistern. Alles sehr schön, selbst für den Kindergarten, denn eine Playmobil-Ausstellung lockt ebenfalls. Alles vor der beeindruckenden Kulisse des Tagebaus, der in diesem Zusammenhang wie eine Grabekammer für Spaten-und-Pinsel-Forscher wirkt.

Derweil zeichnen sich Kompromisse ab, das Paläon zu retten. Die Landespolitik redet, die Gewerkschaft auch. Die Speere haben 300 000 Jahre überstanden. Da muss es eine Zukunft geben. Nicht nur für Claudia Schaper.
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Wie muss es gewesen sein, im abgeriegelten Schutzstreifen zu leben? Hart an der Grenze, wo das Überwachungssystem noch schärfer war als anderswo? Was hat das mit Menschen gemacht, wie leben sie heute damit? Fragen, die Karin Toben seit Langem beschäftigen. Zwei Bücher hat sie darüber geschrieben, an einem dritten arbeitet sie. „Als Wessi oder Ostfriesin habe ich einen anderen Blick“, sagt die Journalistin. „Ich bin kein Opfer geworden.“ Karin Toben hat in Lüneburg gelebt und für die Deutsche Presse-Agentur über Gerichtsprozesse, Gorleben und das Eisenbahnunglück von Eschede berichtet. Heute lebt sie in Rassau, in einem gemütlichen Haus direkt am Deich.

Die Autorin hat das Haus vor fast einem Vierteljahrhundert gekauft. In Lüneburg wäre das „mit meinem kleinen Bausparvertrag nie gegangen“. Jede Mark habe sie in das arg heruntergekommene Häuschen gesteckt, seit einer Ewigkeit keinen Urlaub mehr gemacht, um als Alleinerziehende und einem Einzelkämpferjob für eine riesige Region alles hinzubekommen. An diesem sonnigen Nachmittag ist es so schön hier, dass man eine Ahnung vom Paradies spürt. Im Winter muss man aufpassen, nicht depressiv zu werden in der Abgeschiedenheit unter grauem Himmel.

Die Vergangenheit wird gern verdrängt

Es sind nicht die einzigen Schatten über dem Paradies. Ungerechtigkeit und vielleicht eigene Schuld werden gern verdrängt. Toben erzählt von einer Geburtstagsfeier, bei der sie neulich war. Eine Seniorin, die 1949 als Kind mit ihrer Mutter aus dem deutschen Osten an die Elbe kam, erinnerte sich, sie habe sich auf der Flucht vom „Grasfressen ernährt“. Hier angekommen, „erhielten die Kinder keine Milch vom Bauern“. Die anderen in der Runde wollten es nicht hören: „Alle waren erst still, dann hieß es, der Bauer sei aber immer so nett gewesen.“ Karin Toben findet es wichtig, so ein Leben aufzuschreiben, die Gefühle, die dazugehören: „Es ist ein Stück deutscher Geschichte, das nicht vergessen werden darf.“

Mit Curt Pomp, dem früheren Vorsitzenden des Arbeitskreises Lüneburger Altstadt, hat sie im Elbdorf Vockfey ein Mahnmal geschaffen. Es erinnert an die Aktion „Ungeziefer“ im Jahr 1952, als die DDR-Führung zwischen Ostsee und Tschechoslowakei „unzuverlässige Elemente“ aus dem Streifen ganz nah an der Grenze umsiedelte. Nicht nur das, die Staatsführung schleifte Bauernhöfe, kleine Dörfer, um ein besseres Schussfeld zu haben, wenn jemand dem Sozialismus den Rücken kehren wollte.

Die Steine von mindestens 15 Gehöften waren in ein Brack geschüttet worden, die Menschen nannten das Gewässer, „das nasse Grab von Vockfey“. Bei Neubauarbeiten für einen Deich entdeckten Arbeiter sie wieder. Karin Toben und andere schufen darauf 2006 eine Gedenkpyramide und ein Häuschen mit Informationstafeln: „Es war nicht einfach, das zu realisieren.“ Nicht alle werden gern an die Vergangenheit erinnert, an der sie einen Anteil haben.

„Es heißt, für die Frauen sei es in der DDR besser gewesen, da wird etwas schön geredet“, sagt die 70-Jährige. „Dass die Kinder sofort einen Krippenplatz bekamen, hatte auch etwas damit zu tun, dass die Mütter schneller wieder arbeiten konnten. Das hat dem Staat genutzt. Und nach ihrem Acht-Stunden-Tag hatten sie trotzdem Kinder und Haushalt. Wenn man auf die LPGn schaut, gab es kaum weibliche Führungskräfte.“ LPG steht für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Die DDR hatte Bauern enteignet und ihre Flächen und Maschinen kollektiviert. Mit Freiwilligkeit hatte das nicht viel zu tun.

Karin Toben hat Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Schicksale von Toten, von zerrissenen Familien, von Tätern, die sich nicht erinnern wollten, alles relativierten und oftmals mit milden Strafen davon kamen.

„Meine linken Freunde im Westen wollten das nicht hören“, sagt sie. „Ich bekam Vorwürfe, die sehen in der DDR immer noch das bessere Deutschland.“ Wenn man an der Grenze entlangreist, die Gedenkstätten mit Minenstreifen, Selbstschussautomaten und allen anderen Scheußlichkeiten erlebt, stellt man sich automatisch die Frage, warum sich ein vermeintlich so guter Staat derart abriegeln musste. Nach innen. Denn aus dem Westen wollte ja kaum jemand in den Sozialismus übersiedeln. Übrigens auch nicht die „linken Freunde“

Karin Toben war immer kritisch. Knüppelharte Polizeieinsätze in Gorleben haben sie „politisiert“. Sie war in ihren Reportagen bei der selbstverständlichen Sachlichkeit auf der Seite von Opfern. Das galt als links. „Ich habe damals nicht nur einmal den typischen Satz gehört: ‚Gehen Sie doch in den Osten‘“, sagt sie und lacht laut. „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich das mal mache. Jetzt bin ich hier.“

Dies sei ein guter Schritt gewesen. Sie sei in die Gemeinschaft hineingewachsen. Nach einem Unfall zog sie 2005 ganz rüber nach Rassau und gab ihre Wohnung im Roten Feld in Lüneburg auf. Es bleibt ein Leben mit Herausforderungen. Für den Garten brauche sie Hilfe, mit einem Trecker mäht sie die Wiese direkt hinterm Deich, das ist Pflicht hier, wo die Elbe nicht nur träge und friedlich kann, sondern sich auch ausdehnen will, sodass die Deiche sie nur mühsam bändigen können.

Doch anderes wiegt schwerer: „Zum Einkaufen in Neuhaus oder Dömitz fahre ich 40 Kilometer hin und zurück. Ich bin 1948 ja mit Vorratshaltung aufgewachsen. Damals galt: ‚Kind, der nächste Krieg kommt bestimmt.‘“ Sie lacht wieder und zählt weiter auf: „Es fährt nur der Schulbus und neuerdings auch ein Bürgermobil. Wenn ich jemanden besuchen will oder mich jemand besucht, bedeutet das immer Fahren. Aber die Versorgung klappt, in Neuhaus gibt es einen Zahnarzt und einen Hausarzt, der tatsächlich Hausbesuche macht. Ins Kino fahre ich nach Boizenburg.“

Abgeschnitten fühlt sie sich nicht: „Solange ich Auto fahren kann.“ Gerade hat sie ein E-Bike bekommen, ein Segen, weil ein Bein nach einem Sturz muckt. Sie lacht wie ein junges Mädchen, als sie lossaust. Doch am Ende des Nachmittags bleibt auch der Satz, dass das Leben hier endlich ist. Denn wenn sie nicht mehr mobil ist, wird sie ihr kleines Paradies verlassen müssen, zurück in die Stadt, wo die Versorgung besser ist.



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Mitten in Neuhaus haben im ehemaligen Krankenhaus heute das Tourismus-Büro und das Arche-Zentrum ihren Sitz. Das Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue umfasst die Landkreise Lüneburg und Lüchow-Dannenberg entlang der Elbe, es reicht von Schnackenburg bis Lauenburg. In Neuhaus gibt es sozusagen eine Außenstelle. Eine Ausstellung zeigt Tier- und Pflanzenwelt der Region. Darunter viele Arten, die sonst selten sind. Biber, Seeadler und jede Menge Störche fühlen sich hier wohl.

Siegrun Hogelücht und ihr Mann Holger teilen sich eine Stelle. Die 53-Jährige ist von der Hamburger Schanze mitten in die Natur gezogen. Die Natur sei der Schatz, mit dem man punkten müsse, denn größere Betriebe gebe es hier kaum. Die Autobahn sei weit weg. Pendeln nach Lüneburg oder Hamburg zur Arbeit gehöre für die meisten der 5200 Neuhauser dazu.

Im sogenannten sanften Tourismus sieht sie eine Chance. Rund 20 Beherbungsbetriebe gebe es mit bis zu 35 000 Übernachtungen pro Jahr, in schlechten Jahren allerdings deutlich weniger. Rad-Wanderer und Familien fänden hier Entspannung. Die Gäste suchten regionale Besonderheiten, deshalb sei es wichtig, zum Beispiel auf alte Haustierrassen zu setzen und sie auch in den Lokalen als Speiseangebot entsprechend zu vermarkten. Es gebe eine Menge zu tun, um sich unter anderem im Internet zu präsentieren, doch das Engagement der Einheimischen könnte größer sein.

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Das Holzhaus sieht ein bisschen nach Wildwest aus und Dieter Wittmann wie der passende Cowboy mit seinem breitkrempigen Hut samt Holzfällerhemd. Er sitzt vor der Tür seiner Blockhütte am Elbe-Lübeck-Kanal in Witzeeze. Radler und Spaziergänger ziehen vorbei, auf dem Kanal tuckern Schiffe. Schöner gehe es nicht, findet der alte Kapitän. Er ist ein Beispiel dafür, dass Grenzen keine Rolle spielen.

Er sei in Hof an der Saale geboren, da, wo meine Tour begann. Es hat ihn mit 16 Jahren in die Welt getrieben: „Afrika, Karibik, Amerika.“ Als er heiratete und Kinder kamen, machte er in Hamburg, später in Reinbek fest und fuhr dann Feeder, kleinere Containerschiffe, die wie Zubringer arbeiten: „Durch den Nordostseekanal nach Schweden und Finnland.“ Nun ist er Rentner, seine Frau ist vor sechs Jahren gestorben. Seine Sehnsucht nach Weite stillt er auf der Terrasse bei einem Pott Kaffee: „Es kommen immer Schiffe vorbei. Na ja, so kleine Dinger.“

Mit der fallenden Mauer brach das Leben zusammen

Vor 20 Jahren sei er hier vor Anker gegangen. Den eisernen Vorhang, ein paar Hundert Meter hinter dem Kanal, gab es da schon nicht mehr. Ein Thema ist die ehemalige Teilung aber noch immer. Wittmann scheint jeden zu kennen, der vorbeikommt. Ein Paar bleibt stehen, sie erzählt, dass sie ursprünglich aus Boizenburg stamme. Als die Mauer fiel, brach für viele das gewohnte Leben zusammen: „Kindergärten wurden geschlossen, Betriebe machten zu. Die Elbewerft in Boizenburg war der größte Arbeitgeber.“ Sie wurde „abgewickelt“, wie es damals hieß. Hunderte standen auf der Straße.

„Wer 40, 50 war, hatte wenig Chancen“, erinnert sie sich. Die blühenden Landschaften, die der damalige Kanzler Helmut Kohl versprochen hatte, hätten viele nicht erblicken können. Eine Menge Unzufriedenheit sei geblieben. Die Jungen hätten sich nach Westdeutschland orientiert und Arbeit gefunden. Auch sie habe es so gemacht: „Ich habe etwas gelernt, das auch nach der Wende Bestand hatte.“

Allerdings gehört zu dieser Geschichte auch, dass es sich nahe an der Grenze im Mecklenburgischen schön leben lässt und es einen Zuzug aus dem Hamburger Speckgürtel in die Dörfer gab.

Auch Dieter Wittmann wechselte so an den Kanal und ist zufrieden. Er besitze ein Grundstück mit 13 000 Quadratmetern, erzählt er. Auf einer Wiese dürfen Nachbarn ihre Pferde weiden lassen. Der 77-Jährige hatte überlegt, noch zwei Häuschen zu bauen und zu vermieten. Aber das sei nicht so einfach: „Die wollen den Kanal erweitern, da bekommst Du keine Baugenehmigung.“ Was soll‘s, „das Leben geht weiter.“

Auch wirtschaftlich von der Wende gewaltig profitiert

Auch ich muss weiter, nach Zarrentin in Mecklenburg. Dem Ort am Schaalsee, der vom Zusammenbruch der DDR gewaltig profitiert hat. Das erzählt Jürgen Schröder. Er sitzt im Heimatmuseum an der Kasse. Für 1,50 Euro gibt es neben Fotos, Schaubildern und Krempel eine kurze detailreiche Heimatkunde. Der 73-Jährige war zu DDR-Zeiten beim Kreis Hagenow „verantwortlich für die Agrochemie“. Also Düngen und Pflanzenschutz auf den Äckern im ehemals größten Bezirk der DDR. Neben Treckern und Maschinen hatte er auch drei Flugzeuge zur Verfügung. Seine Familie stammt aus Zarrentin, er sei nach seinem Studium zurückgekehrt, obwohl er eigentlich lieber außerhalb des Sperrgebietes gewohnt hätte.

Schröder, der für die SPD in der Stadtvertretung der 5200-Einwohner-Stadt sitzt, sagt, dass nach der Wende große Gewerbegebiete entstanden. Das gilt für den ehemaligen Grenzübergang an der Autobahn sowie die Nachbarorte Valluhn und Gallin und das nahe Wittenburg. Große Unternehmen seien hergezogen, weil sie günstig große Flächen und Fördermittel erhielten. „Wir waren hier erst am Arsch der Welt, so eingeschlossen. Jetzt sind wir mittendrin, das liegt an der Lage zur Autobahn nach Hamburg und Schwerin“, sagt er. Edeka beispielsweise hat erst vor ein paar Jahren ihren Standort in Lüneburg geschlossen und hierher verlegt.

Aufschwung Ost, der ein paar Kilometer weiter in Schleswig-Holstein wenig Begeisterung hervorrief. „Drüben waren sie sauer“, weiß Schröder. „Der Bürgermeister von Gudow hat mir gesagt, wie ungerecht es sei, dass bei ihnen nichts passiert.“

Es klingt, als sehe Schröder darin einen gewissen Ausgleich für die Jahrzehnte des Eingeschlossenseins: „Wir hatten einen Stempel im Pass, um durchzukommen. Wenn wir Besuch haben wollten, mussten wir das vier Wochen vorher beantragen. Dann gab es Passierscheine oder auch nicht. Meine Mutter hatte elf Geschwister im Westen. Als Rentnerin durfte sie zwar rüber, aber die Verwandten durften nicht zu uns.“

Schröder erzählt, wie der Staat sich immer weiter einigelte. Auf der Halbinsel Strangen ließ das Regime Häuser schleifen, 1975 mussten die letzten Bewohner gehen. Und dann der Schaalsee. Der streckt sich wunderschön in die Landschaft rüber in Richtung Seedorf ins Herzogtum Lauenburg. „Boote waren nicht erlaubt. Nur der Fischer durfte raus, weil er Frau und Kinder hatte. Der haute nicht ab. Die Badestelle war mit Bojen abgegrenzt. Die Kinder durften keine Schwimmreifen und Luftmatratzen mitbringen, obwohl die Grenze fünf Kilometer weiter draußen lag, auf dem See kontrollierten Schnelloote der Grenztruppen. Ein Irrsinn. Zumindest in der Kontrolle waren wir Weltspitze, sonst ja nicht so.“

Schröder berichtet aber auch davon, wie nach dem Mauerfall die Kinder der alten Eigentümer Häuser zurückforderten, die ihnen plötzlich wieder gehörten. Gerade am See mit dem traumhaften Blick waren Immobilien besonders begehrt. „Die mäkelten, dass die Ossis nix getan hätten.“ Der kräftige Mann schüttelt den Kopf: „Mit unseren Mitteln haben wir erhalten, was wir konnten. Und unser Eigentum war das ja nicht.“ Auch er habe so einen Kampf ausgefochten, Prozesse geführt und gewonnen, am Ende sei er doch gegangen.

Ohne Fördermittel wäre vieles nicht möglich gewesen

Heute ist er stolz, wie sich sein Ort entwickelt hat. Er führt durch einen noch erhaltenen Flügel des aus dem 13. Jahrhundert stammenden ehemaligen Klosters, das der Heimatstube gegenüberliegt. Als Kindergarten und Jugendclub habe es gedient. Heute kuschelt sich unter die Gewölbedecken aus Backstein eine Bibliothek mit Blick auf den See, sie hat selbst am Sonntag geöffnet. Weiter geht‘s durch den Kreuzgang in Säle, in denen die Stadtvertretung tagt, in denen Besucher Konzerten lauschen. Elegant restauriert. In oberen Etagen hat ein Teil der Verwaltung seinen Sitz.

Alles zu restaurieren, sei nur mit Fördermitteln möglich gewesen, genauso wie das Herrichten der Straßen und Wege. Es geht sehr gediegen zu in Zarrentin. Findet auch Jürgen Schröder. Es sei ein großes Glück, dass die Grenze verschwunden ist. Den Nutzen erklärt er mir ganz simpel: „In Richtung Ratzeburg können Sie am See weiterfahren.“ Dort entlang, wo einst die Grenze alles blockierte.



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An der Grenze

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Das gelbe Haus mit dem Balkon wirkt unscheinbar, doch unter Einheimischen hat es eine besonderen Namen: Stalin-Burg. Als die Russen am Ende des Krieges nach Bayern kamen, besetzten sie das Dorf Mödlareuth im Mai 1945. „Die haben sich nicht um die Grenze des Tannenbachs gekümmert“, erzählt Alfred Eiber. Der Wasserlauf trennt Thüringen und Bayern. Der Kommandant habe auf der Westseite Quartier genommen, mit Stalin-Bild am Eingang und rotem Sowjetstern auf dem Dach. Er wich erst nach mehr als einem Jahr, als die Amerikaner darauf beharrten, dass dies ihr Gebiet sei. Die Sektorengrenzen der Allierten klärten die Verhältnisse.

Eiber kennt die Geschichte der Grenze hier unten so gut wie wenige. Von 1955 bis 1990 versah er dort seinen Dienst, erst beim Bundesgrenzschutz, dann bei der bayerischen Grenzpolizei. Mödlareuth war etwas Besonderes, es hieß Little Berlin, weil die Grenze das Dorf mit ähnlichem Aufwand teilte wie West- und Ostberlin. Heute erinnert ein Museum mit Resten der Sperranlagen an die deutsch-deutsche Geschichte.

Die Teilung störte das Zusammenleben kaum

Seit dem 16. Jahrhundert ist das Dorf zweigeteilt, der Tannbach zog die Grenze zwischen dem Markgraftum Bayreuth und der Grafschaft Reuß-Schleiz. Doch das Zusammenleben störte das kaum, der Bach ist ein schmales Handtuch. 

Selbst als sich Deutschland in hüben und drüben spaltete – 1949 gründeten sich die beiden deutschen Staaten –, ging es zunächst fast gemeinsam weiter.

„Die West-Kinder sind im Osten zur Schule gegangen, die Erwachsenen kehrten in der Wirtschaft ein“, erzählt Eiber. Wer rüber wollte, musste nur dem russischen Soldaten etwas zu essen geben, der an der Brücke Wache stand.“ Das änderte sich am 26. Mai 1952: „Dann stand da Volkspolizei.“ Die deutsche Teilung begann auch in Mödlareuth.

Hof sei am Kriegsende das „Tor zur Freiheit“ geworden, sagt Eiber. Die gewaltige Fluchtwelle vor der vorrückenden Roten Armee habe aus dem Osten zweieinhalb Millionen Menschen in den Westen gespült. Als sich Europa teilte in die Staaten, die unter dem Einfluss der Sowjetunion standen, und auf der anderen Seite das Bündnis der Alliierten USA, England und Frankreich, sei die wachsende Grenze noch recht durchlässig gewesen. Doch das änderte sich.

Zwangsräumungen begannen im Jahr 1952

1952 ging es mit der Aktion Ungeziefer los, Zwangsräumungen begannen. 1961 ließen DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht und seine Genossen die Mauer errichten. Ein Bollwerk, dass Berlin teilte, aber auch der Rest Deutschlands wurde geteilt. „Auch in Mödlareuth haben sie einen zehn Meter breiten Sicherheitsstreifen gezogen und den Schießbefehl eingeführt“, sagt Eiber. „Das zog sich bis zur Ostsee.“ Im kleinen Dorf erhob sich zudem eine Bretterwand: „1958 hat ein Riesensturm das Ding umgeweht, danach kamen Zäune mit Stacheldraht, 1966 haben Grenztruppen die Mauer gesetzt.“ Alle zehn Jahre sei es heftiger geworden: Doppelzäune, Minen, Selbstschussautomaten.

Das führte zu Tragödien. Eiber kennt eine aus dem Dorf: Zwei Brüder wurden durch die Sperren getrennt. Am Anfang konnten sie sich zuwinken, doch dann untersagten Befehle den Ostlern, in Richtung Westen zu schauen: „Da waren die Grenzer arg hinterher.“

Die DDR reagierte vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, in Scharen liefen ihre Bürger vor dem rigiden Sozialismus davon. Die Staatsführung aber nannte die Abschottung einen „antifaschistischen Schutzwall“, der richtete sich allerdings nach innen: mit Sperrgebieten, die fünf Kilometer vor Deutschland West begannen und sich quasi verschärften, auf den letzten 500 Metern lag ein Schutzstreifen. Das Museum zeigt Wachtürme, einen Schlagbaum mit eisernen Nägeln, um Autos zu stoppen, riesige Scheinwerfer, Zäune.

Eiber erzählt vom „Wunderzaun“, der stand an 32 Stellen unter schwachem Strom und löste bei Berührung aus. Wer das Hindernis überwunden hatte, musste bis zum nächsten Zaun laufen – und wurde in der Regel von lauernden Grenzern geschnappt. Nicht genug: Für die 90er-Jahre sei eine Lichtschrankenanlage geplant gewesen. Der Mauerfall machte alle Planungen hinfällig.
„In Mödlareuth selber ist nur eine Flucht gelungen“, erinnert sich Eiber. „Das war 1973.“ Es war ein Fahrer, der „Werktätige“ aus den Grenzdörfern einsammelte und zur Arbeit fuhr. Jahrelang. Irgendwann muss dem Mann klar gewesen sein, dass es ihm langte, im Arbeiter- und Bauern-Staat zu leben. „Er ist mit seinem Kleinbus an die Mauer gefahren und hatte eine Leiter dabei, dann ist er rüber.“

Eiber stand den Grenzern auf Armeslänge gegenüber

Doch jede gelungene Flucht deckte eben auch Lücken im engmaschigen Netz auf: Die wurden geschlossen. So nachdem eine Frau ein paar Dörfer weiter durch ein enges Kanalisationsrohr gerobbt war und sich in die Saale fallen ließ – ein paar Schwimmzüge in die Freiheit: „Danach haben sie bis Lübeck hoch alle Rohre vergittert.“

Eiber war für ein ganzes Stück der Grenze zuständig. Er erzählt, wie er und seine Kollegen speziellen Grenzern bis auf Armeslänge gegenüberstanden: „Die durften nicht mit uns sprechen.“ Nicht einmal ein „Guten Morgen“ war erlaubt. Alle Vorkommnisse im Bereich Hof „sind auf meinem Schreibtisch gelandet, 20 waren es wohl jeden Tag“. Die Meldungen schickte er ins Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei. Etwa, dass bis zum Mauerbau rund 250 Fluchten und Versuche registriert wurden, danach waren es noch zehn bis zwanzig pro Monat. Eiber lächt: „Die, die rübergekommen sind, standen alle vor meinem Schreibtisch, ich habe jedem die Hand geschüttelt.“

Er und seine Kollegen hätten oft früh erfahren, was sich auf der anderen Seite tat: „Es sind ja Beziehungen in Familien, zu Freunden geblieben.“ Sie wussten auch, „dass die Stasi unseren Funk abhört. Wir haben dann aus Telefonzellen angerufen.“ Aber es habe auch Spione und IMs gegeben, Inoffizielle Mitarbeiter: „Auch in Westdeutschland. Ich frage mich, wo die alle geblieben sind.“

Das große Werk in Hirschberg ist längst abgerissen

In Hirschberg stand die größte Lederwarenfabrik der DDR: „1500 Rinderhäute haben sie da am Tag verarbeitet.“ Schuhe waren gefragt. 1500 Menschen seien im Deutschen Reich im Betrieb beschäftigt gewesen, im Sozialismus noch 900. Man habe verwinden müssen, dass die Sowjetunion Maschinen abbaute und mitnahm: „Das wuchs dann wieder.“ Ein gewaltiger Produktionskomplex, Eiber zeigt Fotos, wie die Fabrik abgeriegelt wurde. Nach dem Fall der Mauer ging alles zum Teufel. Abgewickelt. Das Werk ist längst abgerissen.

Mödlareuth war ein Touristenziel. Zum „Mauer gucken“ kamen ganze Reisebusladungen, aber auch Prominenz. George Bush senior besuchte das Dorf als US-Vizepräsident im Februar 1983 gemeinsam mit dem damaligen Verteidigungsminister Manfred Wörner. Auch die Bundesrepublik wollte offenbar ein besonderes Bild vermitteln. So sollten keine DDR-Aufklärer, die sich bewaffnet bis auf den letzten Zentimeter des Staatsgebiets bewegen durften, dem US-Politiker direkt gegenüber stehen. „Wir haben Reisenden einen Zettel mitgegeben, dass sich der Chef der Grenztruppen bei uns melden möge. Es gab zwar direkte Telefone, aber die haben nicht mit uns gesprochen.“

Tatsächlich trafen sich die obersten lokalen Grenzüberwacher von hüben und drüben auf einer Brücke und vereinbarten, dass die Aufklärer wegblieben. Bis auf zwei, die den Aufmarsch aus der Nähe beobachteten. Alles lief gut bis zu dem Moment, als Bush den Abflug machte und mit seinem Hubschrauber abhob. „Da ist mir meine Dienstmütze vom Kopf geflogen und zehn, fünfzehn Meter rübergeweht. Die siehst du nie wieder, haben meine Kollegen gesagt. Doch, habe ich gesagt, die hole ich mir. Und bin rüber.“ Ein dramatischer Moment, doch alle bewahrten die Ruhe – kein Grenzzwischenfall.

Der lange Schatten des Todesstreifens

Das Sperrgebiet mit seinen Todesstreifen und Schicksalen lässt Eiber nicht los. Er ging 1990 mit dem Ende der Grenze in den Ruhestand, doch seitdem bietet er Führungen an. Bis heute. Er hat ein Buch geschrieben, ist als Zeitzeuge gefragt in Schulen. Am Museum in Mödlareuth hat er nach eigenen Worten einen Anteil. Er hatte zu DDR-Zeiten den Fotografen Arnd Schaffer mitgenommen, der Bilder von den Situationen an der Grenze machte. Eiber lacht: „Der konnte in Farbe fotografieren, wir nur in Schwarz-weiß, der bayerische Staat ist arm.“ Und Schaffer habe mit seinen Aufnahmen einen Anstoß für die Grenzschau gegeben.

Demnächst kommt sein Buch in zweiter Auflage heraus

Mödlareuth ist an diesem Morgen recht leer. Schneeregen im Mai lockt keine Besucher. Eiber selber geht nicht in die Ausstellung: „Das kenne ich, und ich weiß Geschichten, die sie da nicht erzählen.“ Er weiß eine Menge, man kann gar nicht alles aufschreiben. Demnächst kommt sein Buch in zweiter Auflage heraus: „Da können Sie alles nachlesen.“ Ja, daumendick deutsch-deutsche Geschichte. Übrigens auch verfilmt: Das Dorf diente als Vorlage für TV-Staffeln namens „Tannbach“, die eben erzählen, wie es ist, wenn sich die Welt plötzlich teilt.

Geteilt ist das Dorf mit seinen 40 Einwohnern geblieben. Ein Teil liegt in Thüringen, der andere in Bayern, es gibt zwei Postleitzahlen, zwei Telefonvorwahlen. Aber heute geht es sich leicht über den Tannbach als ewige Grenze, um sich zu besuchen.



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Immer auf den Gegner zu starren, wird langweilig. Meistens passiert ja nix. Also legen die amerikanischen Soldaten auf ihrem Stützpunkt einen Platz zum Hufeisenwerfen an und mauern einen Grill hoch. Ganz oben an Point Alpha, 411 Meter hoch mit weitem Blick auf die DDR. Es lässt sich trefflich auf das thüringische Geisa schauen und auf die Täler. Natürlich kann man in der Höhe auch den Funk der Nationalen Volksarmee der Grenztruppen und der sowjetischen Soldaten belauschen. Eine halbe Million Rotarmisten sind an mehr als 620 Standorten in Deutschland Ost stationiert. Damit der Krieg kalt bleibt, belauert man sich gegenseitig.

Der Grill von Point ist heute heiß. Michael Müller brät Nackensteaks, ein paar Dutzend. „Nachher kommt eine Besuchergruppe“, erzählt er. Müller macht sie satt. Der 62-Jährige hat die Seiten gewechselt. „Damals habe ich meinen Wehrdienst bei den Grenztruppen geleistet. Ich war in Hirschberg stationiert, Mödlareuth, Blankenstein waren wir unterwegs.“ Bei den Pionieren habe er Dienst geschoben, deshalb habe er „feindwärts“ an der Grenze laufen dürfen. Das meint: auch vor dem Zaun: „Ein Schritt und ich wäre drüben gewesen.“ Doch wer macht das, wenn er Familie hat?

Flucht war immer ein Thema

Die Grenze der DDR war nach innen aufgebaut. Das Areal auf der Ostseite hinter dem Zaun lag ´freundwärts`. Was für Worte. 1981/82 patroulierte Müller an den steilen Hängen zwischen Tschecheslowakei, Sachsen und Bayern. „Ich habe nie schießen müssen“, sagt der freundliche Mann. „Toi, toi, toi!“ In seiner Stimme liegt noch immer ein Aufatmen.

Flucht der eigenen Bürger war für die DDR immer ein Thema. 30 000 Soldaten sicherten knapp 1400 Kilometer Grenze. In der Ausstellung ein paar Meter ein paar Hundert Meter weiter heißt es, dass zwischen dem Mauerbau 1961 und dem Untergang der DDR 1989 mindestens 872 Menschen an der Trennline starben.

„Im Zaun hingen Selbstschussanlagen wie auf einem Notenblatt im Zaun; die mussten wir bei Gewitter abstellen, sonst hätten die losgehen können“, schildert Müller. Das hätten die Chance für „Republikflüchtlinge“ sein können: „Also mussten wir raus.“ Unter den Augen der Aufklärung West. „Wenn wir vor dem Zaun liefen für den Grenzausbau, hat uns der Bundesgrenzschutz auf der anderen Seite immer beobachtet“, erinnert er sich. „Na klar, wir kannten gegeseitig unsere Gesichter. Wenn du da ein ein Jahr lang längs läufst. Aber reden durften wir nichts. Wenn die Guten Morgen sagten, konnten wir höchstens mal nicken.“ Er atmet noch einmal durch, glücklicherweise sei in seiner Zeit niemand umgekommen. Dann lächelt er: „Ein paar Jahre vorher ist in meinem Abschnitt Leuten mit einem Ballon die Flucht rüber gelungen.“

Dass Deutschland eins sei, empfinde er als großes Glück. „Europa, das ist ein anderer Zeitgeist. Was alles erreicht wurde, in der DDR hätten wir das nicht geschafft.“ Klar, die Brötchen — und das waren noch welche, so kross — hätten nur fünf Pfennige gekostet, Miete sei billig gewesen, Poli-Kliniken, also Gesundheitszentren,habe es genug gegeben. Kein Mangel an Kita-Plätzen. Nicht alles war schlecht. Trotzdem, heute ist es besser: „Als die Grenze offen war, sind wir nach Bayern, die Leute waren alle so gastfreundlich.“ Reisen hätten sie können, wohin sie wollten.

Für Müller brach ein Teil seiner Welt zusammen. Als Lokführer habe er bei Erfurt in einem Energiekombinat gearbeitet: „Kohlzüge fahren.“ Das Kombinat gibt‘s nicht mehr: „Stadtwerke unter westlicher Führung.“ Die Arbeit habe er verloren, andere Jobs folgten, nun lebt er in der Nähe von Point Alpha und hilft am Grill Verwandten, die die kleine Wirtschaft am Aussichtspunkt betreiben. Er lächelt, dreht seine Steaks, zuckt die Schultern: „Bei uns sagt man, man wurschelt sich so durch. Hat immer geklappt.“ Am Grill ist die Wiedervereinigung gelungen.

Strategisch wichtiger Punkt

Die Amerikaner kamen 1965 zum Point Alpha, sie errichteten auf der hessischen Seite bei Rasdorf einen Wachtposten, erst aus Holz, 1985 kam der, der noch heute steht. Dort saßen GIs, die zu viert in Schichten zwischen zwei bis acht Stunden rund um die Uhr Aufklärung betrieben. Via Funk waren sie mit ihrem Hauptquartier in Fulda verbunden. Zeitweilig stationierte die US Army hier bis zu 200 US-Soldaten. Auf dem Gelände stehen Panzer, Laster und Hubschrauber, die die Amis beziehungsweise der Bundesgrenzschutz nutzten.

Wichtig war der Stützpunkt, weil man im Westen davon ausging – später bestätigten das Archivrecherchen –, dass der Warschauer Pakt bei einem Krieg mit Panzern vorstoßen würde. Möglich gewesen wäre das unter anderem gewesen an „The Fulda Gap“, an der Lücke von Fulda. Die Tanks wären wahrscheinlich bis zum Rhein gerollt, denn die Nato hätte dem Gegner nur Scharmützel liefern können.

Heute erinnert eine Gedenkstätte an die deutsche Teilung und ihre Folgen. In Spitzenzeiten kamen bis zu 100 000 Besucher pro Jahr, jetzt seien es rund 70000 erzählt mir die Mitarbeiterin an der Kasse und nennt einen möglichen Grund für den Rückgang: „Vor fünf Jahren wurde die Ausstellung neu konzipiert, viel Multimedia. Das gefällt nicht jedem.“

Die mörderische Grenze — das kann man sich nur schwer vorstellen, wenn man jünger als dreißig ist. Im Museum erzählt ein Führer als Zeitzeuge, ehedem Zöllner in Herleshausen, einer Schulklasse, was er erlebt hat. Ich höre kurz zu. 13 Millionen Minen hätte die DDR im Grenzstreifen verlegt gehabt, sie sollten Flüchtlinge stoppen und hätten es auch immer wieder getan. In der Ausstellung zeigen Bilder zwei Tote, die scheiterten und grausam zugerichtet wurden. Nach dem Ende der DDR haben man Minen mit Walzen unschädlich gemacht, allerdings habe man so nur rund 97 Prozent erwischt.

DIe Grenze war auch in Richtung Westen ein tückisches System: Nicht der Zaun bildete die eigentliche Grenze, auch nicht der schwarz-rot-goldene Betonpfahl, der die Deutsche Demokratische Republik markierte, sondern zehn Meter davor standen weiße Pflöcke mit rotem Kopf: „Wir hatten immer wieder Leute, die an unseren Warnhinweisen vorbeigelaufen sind“, sagt der ehemalige Beamte. „Die DDR hat nur einmal gesagt, dass die Touristen ihr Gebiet verlassen sollten.“ Wer das nicht getan habe, sei von drei bewaffneten Grenzern festgenommen und eingesperrt worden, bis er nach einigen Tagen in die Bundesrepublik abgeschoben wurde: „Die standen vor mir und haben blaß und verschüchtert gesagt:´Sie können sich nicht vorstellen, wie das war.`Ehrlich: Ich hatte kein Mitleid. Warum haben die sich nicht an die Warnhinweise gehalten?“

Die Schüler staunen, da draußen schaut es so friedlich aus. Die ganzen Reste der „Staatsgrenze“ wirken wie eine Filmkulisse. Dass es anders war, erklären Inschriften am Eingang. DDR-Verteidigungsminister hatte die Losung ausgegeben: „Wer unsere Grenze nicht respektiert, bekommt die Kugel zu spüren.“ Es war ernst gemeint — für die eigenen Bürger.





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Auf der Autobahn donnert unablässig der Verkehr vorbei. Bis Ende 1989 war Marienborn bei Helmstedt ein gewaltiger Bremsklotz, eine GÜSt, wie die DDR Grenzübergangsstellen abkürzte. Hier lag das Nadelöhr auf dem Weg ins angeblich sozialistische Deutschland, nach Westberlin, nach Polen und in die Tschecheslowakei. Allein zwischen 1985 und 1989 fertigten Grenzer 34,6 Millionen Reisende ab. Wer sich im heute freiheitlichen Europa scharfe Kontrollen an den Grenzen wünscht, sollte sich mal umsehen. Selbst wenn nur Reste zu sehen sind, überkommt den Besucher Beklemmung auf dem einst 35 Hektar großen Areal, auf dem rund 1000 Menschen arbeiteten: Grenztruppen, Zoll, Passkontrolleure, das Ministerium für Staatssicherheit, Fachleute für Pflanzenschutzmittel und Veterinäre, Beschäftigte in Werkstätten, Kantinen und des Roten Kreuzes.

Ein paar englische und russische Besucher laufen durch die Baracken – Studenten mit staunenden Gesichtern. Sie hören, dass die zunächst alliierte Kon­trollstelle bereits ein paar Monate nach Kriegsende 1945 eingerichtet wurde, die Besatzungstruppen der Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen versahen hier Dienst. 1949 baute die sowjetische Seite Marienborn aus, ein Jahr später übernahm die SED-Führung das Regime. Anfang der 70er-Jahre ließ Ostberlin die Anlagen ausbauen, 70 Millionen Mark Ost kostete der menschenverachtende Irrsinn. 1996 eröffnete das Mahnmal offiziell. Am Eingang erzählt ein Mitarbeiter, dass täglich zwischen 200 und 500 Besucher die kostenfreie Ausstellung besuchen.

Bundesrepublik kaufte Häftlinge frei

Der „realexistierende Sozialismus“ stieß in der eigenen Bevölkerung nicht bei allen auf Gegenliebe. Bis zum Mauerbau 1961 machten sich Hundertausende auf den Weg in den angeblich furchtbaren Kapitalismus. Die Grenzanlagen sollten das Ausbluten des Arbeiter- und Bauernstaates stoppen. Mit der Verschärfung war es noch gefährlicher geworden, „rüber zu machen“. Wer Flüchtlingen half, galt der DDR als Menschenschmuggler. Die größten Menschenhändler saßen allerdings in Ostberlin.

Die SED-Herrscher nutzten humanitäre Interessen der Bundesrepublik aus. Bonn kaufte 33 755 Häftlinge frei und ermöglichte 250 000 Familienzusammenführungen. Nach offiziellen Verlautbarungen flossen dafür 3,4 Milliarden Mark. Doch der oberste Devisenbeschaffer der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, sprach von acht Milliarden. Das Geld landete zunächst auf Konten des DDR-Überwachungsdienstes, des Ministeriums für Staatssicherheit, später bei Schalck-Golodkowskis Devisenreserven oder bei DDR-Chef Erich Honecker, er unterhielt ein Generalsekretärskonto.

1964 kamen die ersten drei Busse mit freigekauften DDR-Bürgern im Westen an. Die Kirchen halfen, Kontakte herzustellen. Die DDR versuchte alles möglichst geheim zu halten – Anspruch und Wirklichkeit klafften zu weit auseinander. Der Ostberliner Anwalt Wolfgang Vogel verhandelte für die DDR und fädelte mit Kollegen in der Bundesrepublik manchen Deal ein.

Auch im Westen machten einige Geschäfte mit der Not. Ein hessischer Busunternehmer übernahm für Bonn den Fahrdienst. Er schickte besondere Busse, deren Kennzeichen er mit einem Knopfdruck im Armaturenbrett von Ost auf West drehen konnte. Nicht einmal der TÜV in Hanau habe davon gewusst, ist in der Ausstellung nachzulesen.

Der Tod gehörte an der Grenze zum Geschäft

1975 richtete der oberste Aufseher des Überwachungssystems, Minister Erich Mielke, eine besondere Einheit der Staatssicherheit ein, die eben Fluchten verhindern sollte. Wer in Marienborn geschnappt wurde, kam in Stasi-Knäste in Magdeburg oder Halle.

Bilder zeigen, wie Autos, die versuchten, die Grenze zu durchbrechen, gestoppt wurden. Der Tod gehörte an der Grenze zum Geschäft. Denn wie überall galt das größte Augenmerk nach innen: Fluchtgefahr. In Wagen wurde mit Endoskopen und Spiegeln geschaut, im Zweifel nahm man sie auseinander. Die Stasi-Leute hatten Abhörtechnik vom Feinsten installiert. Machte einer der Bediensteten Ungewöhnliches aus, gar einen Fluchtversuch, konnten die Männer über einen von 124 Knöpfen Alarm auslösen: Ampeln schalteten auf Rot, Sperranlagen stoppten 80 Tonnen schwere Laster bei Tempo 50 sofort.

30 Jahre nach dem Mauerfall verdrängt mancher die dunklen Seiten der DDR und hängt der Idee des „besseren Deutschlands“ nach, in dem es keine Arbeitslosigkeit und für jedes Kind einen Kita-Platz gab. Gegen zu viel Ostalgie noch ein paar Zahlen. Rund 1000 Menschen starben bei Fluchtversuchen, darunter etwa 40 Kinder, 27 Angehörige der Grenztruppen fanden den Tod. Die 1961 in Braunschweig gegründete Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen hat bis 1989 in der DDR 42 000 Gewaltakte, 190 vollendete und versuchte Tötungen registriert, dazu 27 000 Misshandlungen im Strafvollzug sowie 30 000 Verurteilungen zu „exzessiven Strafen“. Das Gesamtdeutsche Institut nennt 125 000 Menschenrechtsverletzungen, darunter Verurteilungen, Zwangsadoptionen und Zwangsscheidungen.

Draußen auf der Autobahn donnert der Verkehr vorbei. Europa sichert seine Grenzen heute anderswo. Anders, aber auch nicht immer menschlich. Die Sehnsucht nach Freiheit und einem besseren Leben ist geblieben.


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Dass eine Grenze das Land teilte, ist kaum noch zu spüren. Wie brutal sie war und wie sie das Land quälte, das versteht man, wenn man Willy Brandt zuhört. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hielt zum 13. August 1961 eine flammende Rede. Das Ulbricht-Regime hatte mit dem Bau der Mauer die letzte Möglichkeit genommen, die DDR zu verlassen. „Noch nie konnten Menschen auf Dauer in der Sklaverei gehalten werden“, sagte Brandt: „In Wahrheit hat das kommunistische Regime in den letzten 48 Stunden das Eingeständnis dafür geliefert, daß es selbst Schuld ist an der Flucht von Deutschen nach Deutschland. Eine Clique, die sich Regierung nennt, muss versuchen, ihre eigene Bevölkerung einzusperren. Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers.“

Erinnerungen an Willy Brandt

Brandt, der 1966 Außenminister und 1969 Kanzler wurde, sagte damals Sätze, die Leitlinie seiner Politik bleiben sollten: „Wir werden uns niemals mit der widernatürlichen Spaltung unseres Landes abfinden. Wir wollen ein Volk bleiben.“ Vom Recht auf Selbstbestimmung werde man nicht ablassen. Gleichzeitig war Brandt ein pragmatischer Mann, er handelte 1963 mit der DDR-Führung aus, dass Westberliner ihre Verwandten im Osten der Stadt besuchen durften; binnen zwei Wochen nutzten 730 000 Bürger die Chance. Nachzulesen und zu hören ist das im Willy-Brandt-Haus in Lübeck.

Wer sich Zeit nimmt, kann eine Geschichtsstunde erleben, die nicht nur den Kopf, sondern das Herz erreicht. Brandt war auch der Mann, der international die deutsche Nazi-Vergangenheit als Verbrechen anerkannte und um Verzeihung bat. Der Kniefall von Warschau gab ihm auch die moralische Legitimation, zur Teilung seines Landes nicht zu schweigen. Brandt, 1913 in Lübeck geboren, wurde von der Rechten wegen seiner Emigration in der Nazi-Zeit nach Norwegen geschmäht. Er mag angesichts der beiden Militärblöcke in Ost und West lange als Fantast gegolten haben, doch er setzte auf eine Politik der kleinen Schritte, die Verbesserungen für die Menschen brachten.

An Brandt, der über einen DDR-Spion stolperte, kann man einiges kritisieren. In seine Ära fallen der sogenannte Radikalenerlass und die Berufsverbote. Doch wenn man in diesem stolzen Lübecker Bürgerhaus und in der Ausstellung steht, hat sein Glaube an eine gemeinsame deutsche Zukunft etwas Berührendes. Gerade nach Hunderten Kilometern an der alten Grenze entlang, wo ich um in Brandts Bild zu bleiben, die an ein KZ erinnernden Zäune und Wachtürme, gesehen habe. Dieser Mann hatte Mut zur Vision, dass der Eiserne Vorhang fallen würde.

Wie nötig es ist, diese Zeit nicht zu vergessen, lässt sich am letzten Grenzübergang zwischen den Staaten erleben, auf der Westseite Schlutup, auf der Ostseite Selmstorf. In einem zweigeteilten Haus des ehemaligen Bundesgrenzschutzes leben eine Erinnerungsstätte und ein Jugendzentrum nebeneinander. Ingrid Schatz hat die Gedenkstätte mit Christa Gieseler geschaffen. „Wir sind zehn Jahre nach der Grenzöffnung gestartet“, erzählt Ingrid Schatz. Es sei ein Kampf gewesen, Räume zu erhalten, und es bleibe ein Kampf, das Projekt fortzuführen.

Geschichte zum Anfassen

„Wir hören uns von Kritikern an, dass wir hier ein Sammelsurium zusammengetragen haben“, sagt die 74-Jährige. „Aber dann sitzen hier Besucher und weinen, weil sie an ihre eigene Geschichte denken.“ Wie die beiden Männer, die in der Nähe geflüchtet sind – sie hatten Glück, dass sie nicht geschnappt wurden. „Wir wollen Geschichte zum Anfassen“, sagt die Seniorin, die lange für die CDU in der Bürgerschaft saß.

Ins drei, vier Kilometer entfernte Selmstorf haben sie inzwischen Kontakte geknüpft. Das sei nicht einfach gewesen, bilanziert die Leiterin: „So nah an der Grenze haben Dreihundertprozentige gelebt, ich habe noch neulich gehört, es sei ein Verlust, dass die Mauer nicht mehr stehe.“ Trotzdem feiern sie gemeinsam, auch den Mauerfall.

Ihren Parteifreund, den Kieler Ministerpräsidenten Daniel Günther, habe sie angesprochen und um Unterstützung gebeten. Es sei auch Geld gekommen. Endlich könnten sie nach 15 Jahren die Wände frisch pinseln und ein paar Sachen anschaffen. Und vielleicht kommt der MP auch zum Festakt des Mauerfalls.

Wenn Ingrid Schatz Kritik an der angeblich überkommenden Gedenkstätte hört, hat sie ganz modern klingende Argumente für „mein Baby“: Angesichts der Diskussion überall in Europa wieder Grenzen zu schaffen, dürften die 40 Jahre deutscher Teilung nicht vergessen werden: „Wenn wir unsere Geschichte nicht kennen, können wir sie nicht besser machen.“ Wie sich Europa heute abriegele, das könne nicht gut sein. „Wir müssen miteinander reden. Es gibt viel zu viele Grenzen in der Welt.“ Die Gedenkstätten entlang von Hof in Bayern bis eben hier oben in Lübeck an der Ostsee können auch eine Mahnung sein, den Wert eines freien Miteinanders zu schätzen und zu bewahren.

In manchen Köpfen ist die Grenze noch da

Es geht auf die letzten Kilometer meiner Tour. Selmstorf, Dassow, dessen herrlicher See einst mit einer Sperrmauer abgeriegelt war, Pötenitz, wo an einer Gedenktafel Fotos zeigen, wie Stacheldraht sehr früh Schwimmer trennte. Und dann der Priwall. Dort wo heute die DLRG auf Badegäste aufpasst, beobachteten einst Soldaten Mädels im Bikini, natürlich nur um den antifaschistischen Schutzwall zu sichern. Das ist alles fast 30 Jahre her. Gut so, dass es heute anders ist.

1393 Kilometer zog sich die Grenze hin, 3000 Kilometer Zäune, 830 Wachtürme. Das ist verschwunden. Doch in manchen Köpfen ist die Grenze noch da. Es dauert vielleicht noch eine Generation, bis es keine Rolle mehr spielt, ob man aus Rostock oder Regensburg kommt, aus Leipzig oder Lüneburg. Wichtig bleibt es, die Erinnerung zu bewahren. Was es bedeutet, wenn Zäune und Todesstreifen Menschen trennen.

Es mag nicht alles schlecht gewesen sein in der DDR, Kita-Plätze, Poli-Kliniken, günstige Grundnahrungsmittel. Aber wer die gesamte mörderische Scheußlichkeit sieht, mit der das Regime das Land einzäunte, kann nicht im Ernst glauben, dass Deutschland Ost ein guter Staat gewesen sein kann. Es ist ein großes Geschenk, dass die friedliche Revolution in der DDR all das hinweggefegt hat.



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Wer es nicht weiß, fährt droben am Ortseingang auf dem Berg an der Staatsstraße 2207 achtlos vorbei am Nordwald-Markt. Ein Supermarkt, na und? Wer in Nordhalben bleibt, lässt sich erzählen, dass der Markt ein Stück Hoffnung bedeutet. Zukunft in dem Dorf, von dem sein Bürgermeister Norbert Pöhnlein sagt: „Wir kämpfen ums Überleben. Es ist die entscheidende Phase, uns zu stabilisieren.“ Er guckt auf sein Bier: „Wenn nicht, darüber wollen wir nicht nachdenken…“ Wir sitzen im Hotel zur Post. Zusammen mit Otmar Adler, einem bedächtigen Mann, der lange schweigt und seine Worte abwägt, bevor etwas sagt. Adler war einer der beiden Männer, die den Markt gerettet haben.

Die Geschichte, die beide erzählen, beginnt im April 2010. Edeka kündigte an, den Supermarkt zu schließen. Nicht verhandelbar. Der damalige Bürgermeister hoffte auf andere Ketten. Doch es passierte nichts. Was hätten die Alten machen sollen, die ohne Auto? Sie hätten aus Nordhalben entweder 11 Kilometer nach Steinwiesen oder 13 Kilometer nach Bad Steben fahren müssen für einen Liter Milch, ein Paket Mehl, ein Pfund Zucker.

„Wenn kein Einkauf mehr möglich ist, fragen sich die Leute, was ist es wert, hier zu leben, verliert mein Haus an Wert?“, sagt Pöhnlein. „Der Nordwald-Markt ist das Zeichen, dass noch was geht.“ Es geht einiges in Nordhalben. Aber es ist verdammt schwer.

Otmar Adler, der mit seiner Firma Fertighäuser aus Holz baut, und sein Freund Karl Roth, er hat einen Stahlbaubetrieb, wollten das nicht hinnehmen. „Lebt man lange hier, so um die 80 Jahre, hat man Einblick in das Leben“, sagt Adler. „Es lässt einen nicht in der Ruhe, wenn der Ort langsam wegschläft. Aber Lamentieren ergibt keinen Sinn, man muss anpacken.“ Man müsse Leute finden, die ähnlich ticken, mit unternehmerischem Geist. „Die zu sammeln, ist eine Kunst.“ Er lächelt: „So ist ,Nordhalben aktiv‘ entstanden, Noha.“ Sechs, sieben sind die Aktivsten.

Den Supermarkt im Ort gehalten – unter eigener Regie

Sie wollten den Markt retten, gründeten eine Gemeinschaft. 460 Anteile à 300 Euro. Das Grundkapital. Als sie den Laden am 19. Dezember 2010 aufschlossen, drohte eine Katastrophe. Schnee drückte das Dach durch. Adlers Firma half: „Nach 24 Stunden konnten wir wieder öffnen.“ Bis heute. 14 Frauen arbeiten halbtags dort, drei Lehrlinge haben sie. Im Markt wird geklönt, Kaffee getrunken. Ein Dorfgemeinschaftshaus.

Vor vier Jahren wählte Nordhalben Norbert Pöhnlein zum Bürgermeister. Er trat für die Freien Wähler an, ist aber parteilos. Er verdient sein Geld mit Holz, einer Wirtschaft, anderen Dingen, einer, der sich seit Langem engagiert. Er ist ein Querkopf, der Freunde im Wendland hat und mit gegen den Castor zog. Ihm war klar: „Wir müssen Sachen anders machen.“

Warum, ist einfach zu verstehen, wenn der 51-Jährige eine Karte zeigt. Nordhalben hatte vor einem halben Jahrhundert 2800 Einwohner, heute sind es 1630. Der Plan zeigt: Rund 100 Häuser sind unbewohnt, in 120 sind die Bewohner älter als 75. Mitten im Ort stehen Gebäude leer, da war mal ein Schlachter, da eine Bäckerei. „Du schaust zu beim Verfallen“, sagt Pöhnlein. Ein paar Häuser haben sie abgerissen. Zum Teil in Eigenleistung. Adler sagt: „Das hat 5000 Euro gekostet, wären wir den offiziellen Weg gegangen, wären‘s 25 000 gewesen.“

Lob für Landeschef Markus Söder

2017 hat das Land das kommunale Programm Nordostbayern-Inititaive aufgelegt. Es gewährt 90 Prozent Zuschüsse – auch für Rückbauten. Pöhnlein hat ein zweites Bier getrunken und lacht wieder: „Ich mag den Söder sonst nicht, aber das hat er gut gemacht.“ Söder, damals Minister, ist heute Ministerpräsident.

Sie haben ein Klöppel- und Heimatmuseum angeschoben. Stolz ist Adler auf das Künstlerhaus. Es leuchtet gelb. Aus einer Kunstaktion im Landkreis hat ihre Initiative Noha ein eigenes Projekt gemacht. Holz-Art. Davon haben sie jede Menge, Wälder rundum.

„Seit zehn Jahren beherberge ich mit meiner Frau Heidi einen Künstler“, sagt er. Er hat sich angefreundet mit dem Mann aus Essen. Sie haben in einem leerstehenden Gebäude fünf Ateliers und Wohnungen eingerichtet. Nun laden sie ein zum Nordhalbener Kunstsommer, zwei Wochen lang zeigen 16 Männer und Frauen ihre Arbeiten und wie sie entstehen. Dazu vergeben sie Stipendien: „Wir hatten 47 Bewerbungen.“ Und Glück. Ein wohlhabender ehemaliger Nordhalbener hat für das Vorhaben eine sogenannte Verbrauchsstiftung eingerichtet. So ist die Finanzierung zwölf Jahre gesichert.

Pöhnlein sagt, so sehr sie auch kämpfen, ohne eine andere Politik und Bürokratie gehe es nicht: „Was nutzen Vorschriften, wenn sie nicht funktionieren?“ Warum wird eine Schule geschlossen, nur weil sie angeblich zu klein ist? 46 Kinder gehen zur Grundschule in Nordhalben, 1. und 2. Klasse werden gemeinsam unterrichtet. Im Dorf wurden in den vergangenen Jahren 50 Häuser verkauft. An Neubürger, die Schule spielte eine Rolle. Ein anderer Aspekt: Was sollen sie mit der Kanalisation machen, angelegt für 3000 Menschen, sie sind noch halb so viele, es gebe eine Grenze bei den Gebühren.

Es sei wie mit dem Supermarkt, alles was dichtmacht, fehle und mache den Ort noch unattraktiver. Dazu kommt der Ärztemangel: Zwei gibt es hier, einer 66, der andere 70 Jahre alt. Nachfolger sind nicht in Sicht. Pöhnlein hat zig Punkte, die sich ändern müssten.

Arm genug für einen Kinofilm

Weil es so arm aussieht, hat Bully Herbig hier 2017 seinen Film „Ballon“ gedreht, der eine Flucht aus der DDR nacherzählt. Das Hotel Post wurde zur HO-Gaststätte, die alte Bäckerei zu einer Apotheke. Als die Filmleute alles wieder mitnehmen wollten, hat Pöhnlein ihnen gesagt, sie sollten alles dalassen: „Daraus kann man ein Film-Café machen.“ Wieder eine Idee.

Der Ort heißt korrekt Markt Nordhalben, seit gut 850 Jahren gibt es ihn. Markt ist eine Verpflichtung. Die haben sie eingelöst. Am Rest arbeiten sie noch.


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Braunlage und Bad Harzburg warten scheinbar darauf, dass jemand einmal den Staub wegpustet, fährt man rüber in den Ostharz wirken Wernigerode mit seinen 3000 Studenten und das liebevoll restaurierte Quedlinburg attraktiver. „In Bad Harzburg fühlen sich Ältere wohl“, erzählt man mir im Hotel, das mit Fastenkuren und und Wassertreten auf die reifere Genration setzt. Man sieht es auf der Straße — eine Mutter oder ein Vater mit Kinderwagen fallen richtig auf. Die Rollatorendichte auf der wohl einen Kilometer langen Fußgängerzone von Harzburg dürfte in einem Ranking für Norddeutschland einen der vordersten Plätze einnehmen. Auf der anderen Seite kommt alles etwas frischer daher, auch die Geschäfte. Im Westen hat man sich zu lange auf Bewährtem ausgeruht.

Der Harz hat — sofern man das mit einem zugegebenermaßen eher kurzen Blick beurteilen kann — einen Schwung Probleme: Kleine Orte bluten immer weiter aus. Als ich essen gehe, erzählt mir eine Kellnerin, in St. Andreasberg gebe es nur noch einen Markt in der Oberstadt, wer nicht gut zu Fuß ist und in der Unterstadt wohnt, hat ein Problem. Außerhalb der größeren Orte stehen viele Häuser leer. Wer kaufen möchte, kann das billig tun, das zeigt ein Blick in den Immobilienteil der Goslarschen Zeitung. Ein 130-Quadratmeter-Haus in Wildemann wird für 95000 Euro angeboten — wahrscheinlich mit Spielraum nach unten. Mitten in Goslar ist eine 90-Quadratmeter-Wohnung für 500 Euro im Monat zu mieten. Unvorstellbar im Hamburger Land.

Noch ein Blick in die Zeitung: In Braunlage haben sich für den Sommer 14 Schüler für die neue fünfte Klasse des Gymnasiums angemeldet, noch weniger als in den Vorjahren. In Hohegeiß hat man Grundschulklassen zusammengelegt. Es ist wie in Nordhalben im Frankenwald und anderswo an der alten Grenze: ein Kampf gegen den Niedergang auf Raten. Ganz andere Herausforderungen als in den Metropolen. Da läuft die neue Grenze durchs Land.


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2002 stand die Altstadt Hitzackers unter Wasser, 2006 noch einmal. Ein Drama — und ein Glück. Klaus Lehmann weiß, dass er eine ungewöhnliche Verbindung zieht. Doch seine Erklärung scheint einfach: „Vor dem Mauerfall kamen die Leute, um auf die Grenze auf der anderen Seite der Elbe zu gucken. Als alles offen war, kamen nur noch wenige.“ Die Attraktion war weg, die Zäune auch, es galt, ganz neue Landstriche zu entdecken. Zwei Ausflugsschiffe wurden verkauft. Doch das Hochwasser, so tragisch es war, schuf eben auch ein Spektakel für Katastrophentouristen und Medien. Plötzlich gab es einen Grund, den Ort mit seinen knapp 5000 Einwohnern zu besuchen. Nicht nur das, Hitzacker baute in den Jahren danach einen Hochwasserschutz, der Hafen wurde attraktiv, gerade erst weihte die kleine Stadt eine Drehbrücke ein.

Floßfahrten spülen Geld in die Kasse

In Hitzacker haben einige angepackt. Klaus Lehmann ist einer von ihnen. Der pensionierte Lehrer leitet seit 22 Jahren das Museum Altes Zollhaus. „Die Stadt gibt uns 1400 Euro im Jahr, den Rest müssen wir zusammenbekommen“, sagt er. Der Eintritt der 1200 Besucher reicht nicht. Spenden, Veranstaltungen und vor allem die 4000 Gäste der Floßfahrten auf der Elbe bringen Geld in die Kasse. Die Freizeitskipper bekommen ein Ehrensalär von 10 Euro, trotzdem wechselt sich ein Dutzend Fahrer am Steuer gern ab.

Die Ausstellung erzählt von Adeligen, einem Raubritter, der auf dem Weinberg hauste, dem Elbzoll, dem Leben am Strom – und damit auch von der Grenze. Es ist ein bunter Mix. Gerade zeichnen Fotos den Alltag Hitzackers vor Jahrzehnten nach, einen Treckerunfall in den 30er-Jahren, die Ankunft des Hamburgers im Imbiss mitten in der Stadt. Selbst wenn man nicht hier zu Hause ist, guckt man lächelnd hin.

Ein Name, an dem man in Hitzacker nicht vorbeikommt, lautet Schneeberg. Mitten im Ort betreibt die Familie ein Immobilienbüro, dazu ein Hotel und ein Restaurant. Lehmann erkennt an, dass die Schneebergs viel Geld investiert haben. Denn zum schmucken Hafen gehört auch eine Marina, hinter der das Unternehmen steht. Peter Schneeberg ist einflussreich, nicht unumstritten, trotzdem erkennt Lehmann an: „Er hat vieles angeschoben.“ Davon profitiert der Ort, denn die Gas­tronomie bietet den Besuchern gute Unterkünfte.

Aber es ist eben nicht nur ein wohlhabender Firmenchef, der an der Zukunft und an Einnahmen Hitzackers Interesse hat. Vor zwei Jahren wollte das Land Niedersachsen die Jeetzel verkaufen, den Fluss, der die Altstadt-Insel umschließt und in die Elbe mündet. Lehmann und andere machten dagegen mobil: einen Fluss zu verkaufen – unvorstellbar. Am Ende haben sie es verhindert.

Nicht nur das ist ein Erfolg. „Wir treffen uns seitdem einmal im Monat bei mir, 20, 25 Leute und entwickeln Ideen unter dem Motto ‚Gemeinsam für Hitzacker‘. Im vergangenen Sommer hatten wir Musik am Fluss, das war ein Low-Budget-Projekt mit Bands aus der Region. Wir wollen ein blühendes Hitzacker, eine plastikfreie Stadt. Wir haben erreicht, dass Elb- und Zollstraße viermal im Jahr autofrei sind.“

Die engen Straßen der Insel hat man in fünf Minuten abgelaufen. Eigentlich. Denn es gibt lauter kleine Läden; Kunst, Mode, Bücher, Lokale. Ungewöhnlich viel, ungewöhnlich individuell. „Die können alle davon leben“, freut sich Lehmann. Trotz der Wintermonate, die weniger Besucher kommen lassen. Klar, im Sommer ist es voll. Das Wendland, die Wege an der Elbe – herrlich zum Radfahren. Selbst unter der Woche ist es an diesem Mittag in der Öko-Kneipe Albis so voll, dass sich Gäste einfach auf die freien Stühle an meinem Tisch setzen. Hat etwas, im Nu klönen wir.

Viele Bewohner müssen zur Arbeit weit pendeln

Es gibt ein paar produzierende Betriebe, doch wer hier lebt, muss oft zur Arbeit weit pendeln, nach Lüneburg, Wolfsburg, Hamburg. Das nehmen viele in Kauf. „Sie bekommen auf der Insel kein Haus mehr“, bilanziert Lehmann. „Das war vor fünf, sechs Jahren noch anders. Hitzacker ist gefragt.“ Die besondere Mischung, zu der Lehmann auch Feuerwehr, Schützen und Vereine zählt, mache die Stadt aus.

Das Leben im Widerstand macht aktiv und offen, andere Wege zu gehen. Es war auch ein Grund, weshalb Lehmann nach dem Lehramtsstudium in Lüneburg 1980 nach Hitzacker zog und blieb. Wie eben auch andere. Man kennt sich hier im Landkreis, der keine 50 000 Einwohner mehr zählt. „Wenn am Dach etwas kaputt ist, rufe ich einen bekannten Handwerker an, der kommt schnell vorbei“, sagt Lehmann. Einige Kilometer zu fahren, sei hier selbstverständlich. Man könne sich aufeinander verlassen.

Nun will Lehmann seinen Schatz zeigen, obwohl es in Strömen regnet. Wir laufen zur Jeetzel, da liegt das Sofa-Floß. Zwölf Plätze unter einem Pavillon-Dach, es sieht gemütlich aus und nach der Entschleunigung, mit der es sich hier ganz gut leben lässt. Natürlich ist bei Ausfahrten auf die Elbe die Grenze ein Thema, die ist nicht vergessen mit ihren Zäunen, Wachtürmen, Patrouillenbooten. Zum Glück vorbei, längst pflegt man Freundschaften hüben und drüben. Die kurze Verbindung: Eine winzige Personenfähre setzt Fußgänger und Radler für 2,80 Euro über nach Herrenhof.

Lehmann blickt optimistisch auf Hitzacker. Junge Leute wüchsen nach und packten genauso an – wie die ältere Generation. Zeit, andere ranzulassen. Im Museum will er einen Nachfolger einarbeiten. Am Ende geht es immer weiter.






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